Mutti packt aus
nicht einfach Knöpfe, sondern beackere für das zarte Pflänzchen Leselust geduldig Myriaden von Buchseiten:
Den Vater meiner Kinder ermittelte ich einst sorgfältig unter allen Kandidaten anhand der Zahl und Qualität der Titel, die ich in den fraglichen Bücherregalen vorfand. Danach veranstaltete ich ein heimliches assessment-center, um herauszufinden, wer am besten über gelesene Bücher sprechen konnte. Später hielt ich ausdauerndes Lesen in der Schwangerschaft für geboten und noch ein wenig später platzierte ich jedes Baby sorgsam in der Wiege vor der Bücherwand. Jedem Zweijährigen in meiner Wohnung habe ich gestattet, aus den Büchern Mauern und Türme zu bauen, sogar den Shakespeare mit Goldschnitt habe ich für die Zinnen rausgerückt. Nudelsuppe gab es bei uns nie mit Sternchen, immer nur mit Buchstaben, die auch im Duden verzeichnet sind. Sogar am Ostseestrand griff ich beherzt ein, wenn die Kinder eine Sandburg bauen wollten. Buchstaben aus Muscheln legen ist doch viel schöner! Selbstredend habe ich bildungstechnisch den Schulstart vorgeglüht und nächtelang vorgelesen. Noch dazu jeden freien Fleck an der Wand mit Postern beklebt, auf denen alle möglichen Tiere in akrobatischen Positionen ein lustiges Kamasutra turnen, in dem wissbegierige Kinder das Alphabet erkennen. Um der guten Sache willen habe ich niemals ein lesendes Kind mit der plumpen Aufforderung unterbrochen, sich die Hände zu waschen, die Gummistiefel auszuziehen oder den Tisch zu decken, sondern still abgewartet, bis man die Lektüre beendet hatte. Ja, jeden Bücherwunsch habe ich umgehend erfüllt und entweder zum Geldbeutel gegriffen, oder ich bin zu weitschweifigen Ausflügen in die Stadtbibliothek aufgebrochen. Ja, ist das denn zu viel verlangt, ein lesendes Kind haben zu wollen?
Offenbar schon. »Geht mal ruhig. Ich warte hier draußen«, verkündete mein Jüngster am ersten Ferientag, als ich die Familie in die Buchhandlung einlud und mit spendabler Attitüde jedem Kind erlaubte, sich ein Buch für die Ferien auszusuchen. »Kann ich ’n Eis dafür?«, nuschelte er mürrisch, als ich ihn anflehte, doch wenigstens mal zu gucken. »Alle Kinder lernen lesen, Indianer und Chinesen …«, intoniere ich zart und verführerisch die Hymne der Erstklässler zur Melodie von Glory! Glory! Hallelujah! , weil es mit Riesenschritten auf den ersten Schultag zugeht. Prompt hält er sich die Ohren zu.
Und ich bin am Ende mit meinem Kinderlatein. Dreimal ist die Rechnung aufgegangen: die anderen drei lieben Bücher. Wehmütig denke ich an all den Spaß, den wir mit dem Lesenlernen hatten. Hingebungsvoll habe ich mit dem ersten Kind jeden neuen Buchstaben in Plätzchenteig gebacken. Gejubelt habe ich, als das zweite am zweiten Schultag auf eine Hauswand zustürzte, auf die »Ihr Arschkriecher!« gesprüht war. »Guck mal, Mama, ein k!«, rief sie entzückt. Wie habe ich mich gefreut, als auch ihre Schwester zu ersten Lesereisen in die Umgebung aufbrach und unablässig murmelnd jedes Schild am Wegesrand zu entziffern suchte. »Was sind eigentlich Urinteppiche?« wollte sie vor dem Laden wissen, in dem Orientteppiche zu verkaufen waren. War ich gerührt, als mein Großer sinnierte: »Ist eigentlich Bibliothe der Vorname von Karin?«
Doch einer tanzt ja immer aus der Reihe. Gerade jetzt, wo die familiäre Alphabetisierungsquote 80 Prozent erreicht hat und ich beherzt zum Endspurt auf die Hundertprozentmarke ansetzen wollte: Bildungsverweigerung auf ganzer Linie. Wie soll das eigentlich in der Schule werden, wenn der Junge nach den Sommerferien immer noch nicht lesen lernen will? Im Grunde brauche ich ihn da gar nicht hinzubringen.
Nach den Ferien sitze ich mit ihm im Auto. Wir warten darauf, dass sich das Schultor öffnet und seine Schwestern wieder ausspuckt. Uns bleibt noch die Galgenfrist von einer Woche, dann muss auch er in die Schule gehen und lesen lernen. Mir wird ganz schlecht. Die Mädchen haben uns entdeckt und stürmen winkend aufs Auto zu. Da hör ich ihn hinter mir murmeln: »Du, Mama, warum heißen ei gentlich die Straßen vor den Schulen immer Gasweg?«
Kreativ beschimpfen
Den »Toilettentiefseetaucher mit Arschbeleuchtung« fand ich ja noch ganz witzig. Arschloch, Kackwurst, Furzgesicht – geschenkt. Die Wortsalven, mit denen meine Kinder sich beschießen, habe ich zunächst cool überhört, dann im Wiederholungsfall verboten. Habe mich beherrscht und einfühlsam erkundet, ob der Vierjährige, der seine Schwester gerade
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