Mutti packt aus
muss ich passen. »Wie? Keen Foto von Ihrm Kind? Sowat hat man doch im Portemonnaie!« Sie knurrt: »Wat sind Sie denn für ne Mutter?«. Mir wird heiß. Ach du Schande! Hat nicht, wer sein Kind liebt, stets sein Foto bei sich? Es zu gebären, zu ernähren, seine Hosen zu waschen, alles schön und gut. Aber das Foto! Fehlt! Bis auf die Knochen blamiert: wie damals im Kindergarten, als die Tanten mich in die Ecke gestellt haben – zur Strafe, weil ich zwei Bonbons haben wollte statt einem wie die braven Kinder.
Nun presst sie das erste Kinn fest ins zweite, widmet sich wieder der BZ. Mir rauscht das Blut in den Adern: Ich hatte ein Lächeln wie die weiße Fahne vor mir geschwenkt, versöhnliche Kundengeräusche gemacht, war kaltblütig in die Gemütlichkeit des BVG-Häuschens eingebrochen, um meiner fußfaulen Brut den Beförderungsvorteil zu verschaffen – alles umsonst. Wie ein karmischer Kommentar des Universums verhöhnt die Maschinenstimme am Bahnsteig mein dreistes Verlangen. »Zurückbleiben, bitte!« Ich werde knallrot. Mit Bedacht lädt sie nach, zielt – und trifft: »Sagen Se ma, wie oft soll ick Ihnen det jetzt noch erklären mit der Geschwistakarte? Wie kommense eijentlich klar im Leben, wenn Se einfach nüscht kapieren?« Da habe ich dann erst recht nüscht mehr kapiert, weder die Frau mit der Socke im Mund, noch mich, noch die Welt. Man ist einsam, wenn man die BVG nicht versteht.
Abschied
»Wie soll ich’s bloß zwei Wochen ohne dich aushalten?«, ruft mein Jüngster und wirft drei schmutzige Socken, eine Taucher brille und ein Mickey-Mouse-Heft in seinen Koffer. »Ich vermisse dich so!«, greint er. Doch bevor er nun in Tränen ausbrechen kann und sich am Ende sogar weigert zu fahren, tippt sich seine große Schwester an die Stirn. »Bist du doof? Überleg doch mal, was wir alles machen können, wenn Mama nicht dabei ist!« Das will ich jetzt überhört haben, doch auch an ihm prallt die schwesterliche Anstiftung a b. Er heult. »Ach, das schaffst du schon!«, gebe ich pseudo- fröhlich zurück, denn ich fürchte mich vor tränenreichen Abschieden, habe Angst vor schniefenden Heimwehattacken und fliehe vor zähen Sehnsuchtstelefonaten. Ehrlich gesagt, das tiefe Tal der Tränen, das vor mir liegt, wenn die Haustür hinter allen vieren ins Schloss gefallen ist, durchquere ich im Sprint. Denn dahinter winkt: meine Zeit.
Doch jetzt wird erst einmal geweint. Dabei machen wir das ja nicht zum ersten Mal. Genaugenommen sind wir alle keine Amateure in Sachen Abschied. Besonders ich bin darin gut. Hatte ich mir bei jedem Trennungsweh anlässlich von Kindergartenreisen, Übernachtungsbesuchen und Klassenfahrten nicht immer selbst eisern vorgebetet, dass es die vornehmste Aufgabe der Mutterschaft ist, sich selbst überflüssig zu machen? Mich mit zweifelhaften Äußerungen wie der hervorgetan, dass man gar nicht früh genug beginnen kann, das Schlafen in fremden Betten zu üben? Ja, der Abschied beginnt doch im Prinzip, wenn sich der Streifen im Teststäbchen rosa färbt, weil man es ab da mit einem anderen Menschen zu tun bekommt, den man begleiten, aber nicht besitzen darf! Und deswegen werden sie jetzt mit ihrem Papa schön ans Meer fahren, und zwar ohne mich. Das schaff ich schon. Und wie! Ich freu mich nämlich drauf. In den nächsten zwei Wochen wird OK eine ganz neue und verheißungsvolle Bedeutung haben: Ohne Kinder.
Wie sollten Kinder auch eine Zeit woanders überstehen, wenn ihre Mütter das nicht schaffen? Um symbiotischen Exzessen erst gar keinen Nährboden zu bieten, habe ich verräterische Tränen in Augenschwitzen umgedeutet und gern herumposaunt, dass Zuhause nur der Ort ist, wo die Rechnungen ankommen und man das wesentliche immer im Herzen bei sich trägt. Einmal habe ich sogar als alberne alte Mutti posiert, um meinen Kindern zu gestatten, sich stark, überlegen und schon groß zu fühlen. Wir haben uns ausgemalt, sie wären Astronautin, Vorstandsvorsitzender oder Bundeskanzler geworden und ich würde in Cape Canaveral auftauchen oder in den Bundestag stürmen und jammern: »Hast du auch wirklich genug gegessen, mein Kleines? Ich habe dir Apfelschnitzchen für die Pause mitgebracht!«
Und jetzt das: Die vier komischen Säcke im Flur sind ihre Koffer. Das Auto ist vollgepackt mit allem, was sie brauchen, um im dänischen Ferienhaus die heimischen Kinderzimmer originalgetreu und 1:1 wieder aufzubauen. Der Wagen sieht aus wie die turmhoch beladenen Gefährte der türkischen Gastarbeiter
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