Mutti packt aus
auf dem Autoput durch das Jugoslawien der achtziger Jahre. Mir wird plötzlich ganz schlecht. In letzter Minute verlangt der Jüngste ein Taschen tuch mit drei Blutstropfen von mir drauf, wie im Märchen. Mit routinierter Zuversicht gelingt es mir, ihn auf einen Spritzer meines Parfums runterzuhandeln. Die anderen drei wollen jetzt auch eins.
Dann sind sie wirklich weg. Ich streife durch die leeren, stillen, kinderlosen Zimmer und hebe ein achtlos weggeworfenes T-Shirt auf. Eh ich mich versehe, schnuffle ich auch schon traurig daran herum. Da fällt mein Blick auf einen Zettel am Kühlschrank. Liebe Mama, sei nicht traurig. Wir sind ja bald wieder da. Plötzlich fühlt sich meine Kehle wie mit Stroh gepolstert an. Wie soll ich’s eigentlich so lange ohne sie aushalten?
Fasching
»Als was gehst du denn?«, frage ich meinen Jüngsten mit hoffentlich halbwegs überzeugend geheucheltem Interesse. Er seufzt gequält. »Keine Ahnung. Als nix. Muss ich da überhaupt hin?« Ich kriege einen Mordsschreck, sehe vor meinem entsetzten geistigen Auge meinen kleinen Schatz freudlosem Außenseitertum und anderen seelischen Grausamkeiten ausgeliefert. Sie werden sich an den Händen fassen und im Kreis um ihn herumtanzen, all die aufgekratzten Piraten, Pipis und Prinzesschen, hämische, ätzende Spottlieder werden sie singen, ihn mit Luftschlangen be werfen, ihm ins Ohr tröten und mit Konfetti steinigen. »Bitte, Mama!«, fleht er. »Karneval ist so furchtbar!« Fast hätte ich schon genickt, mir wird ganz blümerant. »Aber Liebling, was hast du denn nur gegen das Verkleiden?«, frage ich so einfühlsam und ruhig wie möglich. »Also ich geh als Waldfee! Oder doch besser als Barbieprinzessin? Laura wird Lilifee, total langweilig. Waldfee ist viel besser«, schwatzt seine Schwester dazwischen, erfreut über meine Aufmerksamkeit für ein Thema, das ich meide wie der Teufel das Weihwasser, »lass den Blödmann doch!« Der Blödmann rollt angewidert mit den Augen und sagt mit männlich-fester Stimme: »Karneval ist zum Kotzen.« Fassungslos schaue ich ihn an, forsche in seinen verkniffenen Zügen nach dem kleinsten Hinweis für den Grund dieser Weigerung, sich kindgemäß am bunten Treiben zu beteiligen. Großes Karnevalsvergnügen in der Schule, mit Motto, Total-Schmückung und vielen lustigen Spielen. Kostümwettbewerb, und man munkelt, die Direktorin käme dieses Jahr als Lakritz schnecke! Und er will nicht hin! Ich schlucke zwei Valium und buche in Gedanken schon mal den Termin beim Therapeuten. Kinder lieben es, sich zu verkleiden! Fiebern sie etwa nicht dem Fasching entgegen, um ihre Träume zu leben und ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen? Diese drei tollen Tage, wo man sich verkleiden kann, ohne schief angesehen zu werden. Wo man einmal sein kann, wer man eigentlich ist! Deshalb greift das Baby zu Pappnase und Perücke, deshalb steigt das Kleinkind ins Kostüm und verlangt nach Schminke! Ein niedliches Käferchen, ein Frosch, ein süßes Teufelchen sein, klassisch den Cowboy, Indianer, Clown, die Prinzessin oder die Hexe zu geben oder total stylisch in Gestalt des angesagten Fernsehpersonals neidische Blicke auf sich zu ziehen, weil man echt aussieht wie Sponge Bob, Wickie, Spiderman oder Homer Simpson.
Und er will nicht, der liebe Junge. Ich geb’s ja zu: Ein Kind, das von der Windel bis zum ersten Bier immer nur verwaschene, ausgebeulte, geerbte Jeans in ansteigenden Größen tragen will und zu Fasching keinen metallisch glitzernden Raumanzug mit echtem Funkgerät und monströser Pump Gun begehrt, kann bei mir mächtig punkten. Besonders, wenn es von drei Geschwistern umgeben ist, die kein Pardon kennen und mich altersentsprechend, entwicklungsgemäß und termingerecht mit exzentrischen Verkleidungswünschen in den Wahnsinn treiben, die weder ästhetischen Normen entsprechen noch bezahlbar, geschweige denn soooo leicht selbst herzustellen sind, wie andere Mütter mir einreden wollen.
Gut, wahrscheinlich bin ich selbst der Grund. Ich, die karnevalistische Spaßbremse vor dem Herrn. Weil ich nämlich nicht verstehe, wie ein Mensch ticken muss, um daran Freude zu haben: Auf offener Straße bescheuerte Lieder singen, wildfremde Menschen am Hals hängen zu haben, tagelang auf gute Laune machen und sich mit Hechtsprüngen auf ekelhafte Billigbonbons stürzen! Durch riesige Vampirgebisse lispeln, sich ein schlabbriges Ichweißnichtwas um den Leib schlingen, die Kinderlocken mit giftgrünem Haarspray verkleistern und
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