Mutti packt aus
vernünftige Haltung einzuüben oder Erkundigungen bei anderen Müttern einzuholen. Keine Zeit, medizinische Begriffe nachzuschlagen oder das Kind mit Büchern wie »Lisa geht ins Krankenhaus« innerlich vorzubereiten.
Wie ein dringend Tatverdächtiger bei der Polizei bitte ich darum, einmal kurz telefonieren zu dürfen. Ich brauche …, ja, was brauche ich eigentlich? Ich muss Termine absagen und jemanden finden, der auf Charlottes Geschwister aufpasst. »Uuiii, auuaa«, macht es hinter mir, ein klägliches Stimmchen ruft: »Mama! Es tut echt voll weh!!«, und während mir der Schweiß ausbricht, »Mama, ich will aber nicht ins Krankenhaus!«
Bei wirklichen Notfällen ist alles anders: dramatisch und verzweifelt, mit Tragen und Eile und Angst. Doch schon, wenn man das Schlimmste nur befürchtet, diskutiert man nicht mehr: »Charlotte, sei vernünftig. Was sein muss, muss sein.« Oh je, das war zu barsch. Waagerecht schießen die Tränen aus den Augen. Neuer Versuch: »Aber ich werde bei dir bleiben, ja, auch nachts. Nein, ich lass dich nicht alleine. Versprochen.«
Morgens habe ich noch gezweifelt, ob ihr Bauchweh tatsächlich den logistischen Aufwand eines Besuches beim Kinderarzt rechtfertigt. Oder nicht doch eher ein vager Zusammenhang zwischen Bauchweh und dräuender Mathearbeit besteht. Sie einfach zu viel Schokolade gefuttert hat? Den Gang zum Klo kategorisch empfohlen. Zwei Stunden später weiß ich, dass hinter dem sorgfältig platzierten Gejammer eine unklare Bauchgeschichte stecken könnte, die schnurstracks in kaltes OP-Licht und Stunden auf kahlen Krankenhausfluren führt, in denen ich wieder und wieder meine Fingerknöchel knete und Stoßgebete nach oben schicke, während ein Team von weltberühmten chirurgischen Kapazitäten um das Leben meines geliebten Babys ringt.
Fast wäre es passiert. Wir ahnen doch alle, dass wir mit dem Entschluss, ein Kind in die Welt zu setzen, dem Schicksal und seinen Schlägen die empfindlichste Flanke geöffnet haben – und treffen rund um die Uhr Vorsorge. Wir verstauen Putzmittel in Hängeschränken, lange bevor sie krabbeln können, haben den Wollpullover auch im Hochsommer griffbereit und impfen en gros oder gar nicht, weil wir die Nebenwirkungen fürchten und die Profitinteressen der Pharmaindustrie durchschaut haben. Arbeiten mit Bachblüt en, Käutertees und übermenschlicher Geduld gegen Strepto kokken. Uns schwant, dass eine Unaufmerksamkeit, nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde dauernd, praktisch immer in einem drei Wochen lang zu tragenden, juckenden Gipsverband enden kann, ein vergessener Wechselbade anzug unweigerlich die Lungenentzündung heraufbeschwört. U nd dass die Nonchalance bei Bauchschmerzen gerne mal zum lebensbedrohlichen Blinddarmdurchbruc h führt! Eltern kranker und verletzter Kinder darf man keine Vorwürfe machen, denn das machen sie schon selbst. Wen wundert’s noch, dass wir angesichts eines Schnupfens, der die jüngsten Familienmitglieder befällt, sogleich einen Plan für lebenslange Invalidität entwerfen?
Dabei leben wir doch in einer Weltgegend, wo der nächste Arzt nie weiter als eine Viertelstunde entfernt ist. Warum also die Panik? Wir können doch versichert sein, dass man alles tun wird, um einem kranken Kind zu helfen. Mal ehrlich, zu Recht spüren Eltern im Flüchtlingslager, im Kugelhagel, in Hungersnot und in den Minenfeldern dieser Welt den kalten Griff ans Herz, die Welle von Angst: Dort fehlt es an allem. Hier hingegen liegen die Gegenmittel bereit, helfende Hände strecken sich uns entgegen, wenn es einem Kind plötzlich bedrohlich schlecht geht. Und trotzdem stehe ich jetzt kurz vor dem Zusammenbruch, tarne meine Panik mit einem schiefen Lächeln und versuche angestrengt, die felsenfeste Ruhe und lächelnde Zuversicht auszustrahlen, die mein blasses, ängstliches Kind jetzt braucht.
Auf der Untersuchungsliege kauert sie jetzt seltsam klein und ungewöhnlich folgsam: sie reicht ihr Handgelenk zum Pulsfühlen mit der Grandezza einer alternden Diva, die geruht, den Handkuss eines glühenden Verehrers entgegenzunehmen. Sie quiekt, als man ihren Bauch betastet. Brav beziffert sie ihren Schmerz auf der Skala eins bis zehn – bei drei. Oder doch fünf? Der Kinderarzt rauscht ins Zimmer, gefolgt von einer weißen Wolke aus ärztlichem Personal in verschiedenen Reifungsstadien. Ich bin so durcheinander, dass mir auf die Frage nach Charlottes Geburtsdatum absolut nichts einfällt. Der Kinderarzt schlägt einen
Weitere Kostenlose Bücher