Mutti packt aus
routiniert heiteren Ton an und spricht betont langsam mit mir. Meinen Geisteszustand schätzt er absolut zutreffend ein. Ich bin nur zu bereit, ihm zu vertrauen und lese ihm den Satz »Alles wird gut« schon im Voraus von den Lippen ab.
Vorerst müssen wir bleiben. Die Klinikatmosphäre wirkt schleichend. Anfangs fühlt man sich noch aufgerufen, wie eine Löwin ihr Junges zu schützen, und verlangt dem behandelnden Arzt ab, seine Vorgehensweise ausführlich zu erklären und sämtliche Alternativen zu diskutieren. Dann verwässert die Panik vom Anfang in angespannte Nervosität. Bald stellt sich Zuversicht ein, Langeweile gesellt sich dazu. Inzwischen weiß man, wo der Kaffeeautomat steht, wie die Schwestern heißen, nimmt die Mahlzeiten als Höhepunkte des Tages und sehnt das Geklapper des Speisewagens vor lauter Langeweile geradezu herbei. Währenddessen gesundet das Kind und verlangt nach diesem und jenem. Noch verlasse ich das Krankenbett nur, um noch mehr Kuscheltiere und Kinderzeitschriften heranzuschaffen, noch … Aber wenn das noch lange so weiter geht, dreh ich durch.
Die Öde der weitläufigen Flure, die ich müde und schlecht gelaunt durchstreife, tut ein Übriges. Ich will hier raus. Charlotte schlägt den entgegengesetzten Weg ein: »Es geht übrigens schon viel besser«, zwitschert sie und lupft das Nachthemd, kaum dass der Doktor das Zimmer betritt. Sie nimmt ihren dreitägigen Krankenhausaufenthalt als Hotelurlaub, lässt sich von den Krankenschwestern bespaßen, genießt die Glotze bis zum Abwinken, malt vier großformatige Bilder, unterhält die ganze Station mit ihren derzeitigen Lebensplanungen – »Früher wollte ich mal zehn Kinder haben. Aber jetzt werde ich Supermodel und lerne sieben Fremdsprachen.« So geht das weiter: Der Verdacht auf Blinddarmentzündung erweiterte sich um den Verdacht auf eine Lymphknotenentzündung und reifte am Ende zur V ermutung, ihre Eierstöcke würden alsbald ordnungsgemäß das tun, was weibliche Körper eben tun. Doch noch bevor ich ein paar mütterliche Rührungstränen verdrücken und mich in solidarisch-urweibliche Gesten einüben und aufbrechen will, um eine Palette kleiner rosa Bindchen und eine Anstaltspackung Mini-Tampons zu kaufen, ist das Bauchweh wieder weg.
Nach drei Tagen unter Beobachtung werden wir beide ins Leben entlassen, obwohl Charlotte protestiert. »Ich würde gerne bei euch einziehen«, vertraut sie den Schwestern zum Abschied an und schiebt huldvoll nach: »Hier wird man wie eine Prinzessin behandelt.«
Jetzt ist sie wieder zu Hause, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, Blinddarm wäre auch nicht soooo verkehrt gewesen, denn da bleiben sie eine Woche weg. Das aber nur unter uns und auch nur, weil sie jetzt in der Küche rumkreischt und sich mit ihrem Bruder um die Plätzchenform »Brandenburger Tor« kloppt. Denn sie will Weihnachtsplätzchen backen, mitten im Sommer. Den Plan habe ich ergeben abgenickt, aus lauter Angst, das Bauchweh könnte wiederkommen.
Traumraum
Am letzten Wochenende haben wir Schloss Sanssouci nach unseren Bedürfnissen eingerichtet. Es bot sich einfach an: der lange Flur, der zu den Gemächern des Königs führt, schreit doch nach rasanten Schussfahrten mit dem Skateboard. Fahrbare Untersätze wären auch nötig, denn wir hätten lange Wege zurückzulegen, wenn wir erst in die Gemächer des alten Fritz umgezogen wären. Jeder bekäme ein eigenes Zimmer, groß genug, um unsere alte Wohnung komplett darin unterzubringen. Wo der König seine Blockflöte spielte, würde Leander ein Riesenschlagzeug stehen haben und die Gardinen vor den Fenstern, die vom Fußboden bis zur Decke reichen, die würden wir natürlich abnehmen, damit wir’s schön hell hätten. Dann würden wir die fremden Leute aus unserem Park rauswerfen und am Eingang schwerbewaffnete Wächter mit gefährlich schimmernden Laserschwertern postieren. »Und wir hätten auch ein Pferd«, sagt Charlotte. »Eins? Pah! Für jeden eins!«, rede ich ihr den Anflug untypischer Bescheidenheit aus. »Und eine goldene Kutsche«, ruft ihre große Schwester, »also ich jedenfalls hätte eine Kutsche für mich allein.« Sie würde den Westflügel beziehen, auch für sich allein – da lässt sie nicht mit sich reden. Denn ihr Pferd würde da mit ihr zusammen wohnen. »Und ich könnte immer mit meinem Pferd in die Schule reiten, da schließe ich’s dann mit ’nem Zahlenschloss am Fahrradständer an«, perlt es aussichtsvoll aus ihrem Mund.
Soll mir recht sein.
Weitere Kostenlose Bücher