Mutti packt aus
kreischend durch die Straßen ziehen!
Mit der Selbstverleugnung, die aller Ehren wert gewesen wäre, habe ich all die Jahre gute Miene zum blöden Spiel gemacht. Anfangs talibanös den Erwerb teurer Kostüme grundsätzlich abgelehnt, dann zähneknirschend das ein oder andere Krönchen, Laserschwert, Glitzertäschchen, einen Zauberstab finanziert, die pinkfarbene Mini-Federboa und den quietschgrünen Dino-Overall ausgeborgt und sogar zwei zarte Feenflügel gebastelt. Zähneknirschend krea-tief über die Verkleidung als Teebeutel, Bockwurst oder Erdbeereis nachgedacht und mich nur einmal versuchsweise geweigert, mehr als ein altes Bettlaken für ein Gespenster-Outfit rauszurücken. Da werde ich doch jetzt auch diesen Kinderkarneval noch ordnungsgemäß über die Bühne bringen! Es muss doch irgendetwas geben, das er gerne sein möchte – Ritter? Rennfahrer? Rockstar? »Was willst du denn so richtig gerne mal sein?«, versuche ich’s noch einmal. »Ich!«, sagt er mit Nachdruck. »Schleimer!«, kräht seine Schwester und schwenkt drohend den grünen Waldfeen-Tüll. Unbeirrt schenkt er mir sein schönstes Lächeln: »Kann ich nicht einfach mal dein Lieblingskind sein?«
Verleihnix
»Er ist doch selber schuld! Ich muss doch klauen, bleibt m ir doch gar nichts anderes übrig!! Wenn er nichts verleiht!!!«, kreischt mein Mädchen im schrillen Diskant höchster Erregung. »Ich bring dich um«, faucht ihr Bruder, »wenn du noch einmal meine Sachen nimmst!« Sie schürzt die Lippen, stemmt die Hände in die Hüften und baut sich vor ihm auf. »Phh, Stummel, du kannst mich mal!«, keift sie kokett und hebt die Nase himmelwärts. Von ganz oben lächelt sie wie Falschgeld und haut nur so zum Test schon mal den weiblichsten aller Sätze raus: »Wenn ich doch nichts anzuziehen hab!« Leanders Augen verengen sich zu Schießscharten. Er holt tief Luft, setzt an und … sie ist schneller und schießt den nächsten vergifteten Pfeil ab. »In einer Familie hilft man sich doch immer gegenseitig«, baut sie die Steilvorlage und semmelt dann das Ding rein. »Sagt Mama auch immer, schon vergessen?« Er taumelt kurz unter dem Treffer, denn er ist momentan der Einzige, dem Mamas Wort noch etwas gilt, dann fängt er sich wieder und brüllt los wie ein junger Traktor. »Helfen, aber nicht klau en! Mama würde nie meine Sachen klauen!«, schreit er. »Aber nur, weil sie ihr nicht passen!«, pariert sie schnippisch. Ich sitze zwei Zimmer weiter und zucke zusammen. »Na, Digger, hat die Elster mal wieder zugeschlagen?«, mischt es sich jovial und neuerdings männlich tief in den Schlagabtausch. Mein großer Junge mimt den grundgütigen, erfahrenen und streng brummenden Dorfpolizisten. Ich will schon aufatmen und am Schreibtisch sitzen bleiben, ihm das Schlichten überlassen und versuchen, den Streit aus der Ferne zu verstehen. Beobachtend, nicht brüllend teilnehmen. Versuchen, irgendetwas Unterhaltsames an der ewigen Wiederkehr des immer gleichen Streits zu entdecken. Immerhin können anscheinend sogar die Nachbarn hin und wieder dem Geschehen etwas abgewinnen. Das wurde mir neulich klar, als meine Kinder wieder einmal wegen nichts aufeinander losgingen, die Nachbarn ihre Begeisterung nicht mehr zügeln konnten und mit beiden Fäusten heftigen Applaus gegen die Wand trommelten.
Wahrscheinlich habe ich irgendetwas falsch gemacht, wenn meine Kinder sich in wilder Wut beharken, weil einer dem anderen Sachen weggenommen hat. Bloß was? Ich habe mich emsig belesen und gelernt, dass ein kleines Kind seine bewegliche Habe als Teil seiner selbst empfindet. Aber tun das große Kinder auch? Davon war in der Literatur nie die Rede. Also dilettiere ich seit gefühlten hundert Jahren: Zuerst habe ich das Streiten bei Strafe untersagt. Erfolg gleich null – so sinnvoll wie mit einem Sieb Wasser zu schöpfen. Ich habe mich aufs Wesentliche konzentriert und die klare, feste Linie in punkto Eigentum jahrelang gepredigt und unbeirrt durchgesetzt: Jedes Kind hat ein Recht auf ganz persönliche Dinge, die allen anderen heilig sein müssen. Jeder Verstoß wird unbarmherzig geahndet. Amen. Basta. Ruhe jetzt. Bei dem aktuellen Geschrei in der Küche erwacht die Hoffnung, dass sich meine eintönige Sprechrolle seit vielen Jahren in diesem Horrorstück endgültig erledigt hat – wegen Wirkungslosigkeit aus dem Drehbuch gestrichen. Es kann eben immer wieder losgehen und tut es auch. Womit habe ich das eigentlich verdient? In unendlicher Geduld versah ich einst
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