Mutti packt aus
Mutter wurde, bin ich total schmerzfrei.
D enn der nützlichste Nebeneffekt jeder Schwangerschaft ist das Verschwinden prüder Hemmungen, verzopfter Verklemmtheiten und spießbürgerlicher Peinlichkeitsgefühle. Kaum dass der Bauch sich rundet, verspürt man unweigerlich den überwältigenden Drang, sich über die aufregenden Entwicklungen unterm XXXXXL-Pullover mit denen auszutauschen, die dasselbe hinter oder gerade vor sich haben. Erörtert mit Zufallsbekanntschaften Farbe und Form der Brustwarzen. Disputiert mit Wildfremden verschiedene Techniken der lockernden Dammmassage mit Weizenkeimöl. Überbietet und erschreckt einander bei der detaillierten Schilderung blutiger Dramen unterhalb des Bauchnabels.
Verschworen und wissend wie Stalingrad-Veteranen kommen wir Schicksalsgenossen ohne Umschweife zur Sache. Rund um den Geburtstermin werden Eltern unweigerlich furchtbar intim miteinander; wir berichten uns erstaunlich offen von unseren Membranen und Bedürfnissen, als wollten wir uns schon auf die atemberaubende Schamlosigkeit in der Entbindungsstation vorbereiten. Man kann es nicht erklären, man muss es erlebt haben: Sobald am Wochenbett zwei weiße Kittel erscheinen, schält sich ein halbes Dutzend frischgebackener Mütter aus den Klinikhemden, um über Plazenten, Hämorrhoiden und die Stiche und Stellen zu diskutieren, wo sie genäht wurden.
Wenn die glorreiche Zeit der Geburt und des Wochenbettes vorbei ist, hört das noch lange nicht auf. Im Kaufhaus, im Restaurant, im Zugabteil entblößen wir uns und nehmen sogar hin, dass das Baby sich mit einem satten Rülpser von der Mutterbrust abwendet und den Umsitzenden ein breites, wissendes Grinsen schenkt. Wir denken uns auch weiter nichts dabei, wenn auf dem Spielplatz, wo wir den Kinderwagen sachte schunkeln, die Mutter auf der Bank nebenan freundlich fragt: »Wie oft kommt er denn nachts?« und dabei versonnen auf unseren schaukelnden zweijährigen Sohn und dessen Vater schaut, der ihm Anschwung gibt. Antworten wahrheitsgemäß und ohne mit der Wimper zu zucken: »Drei oder vier Mal. Und deiner?«
Noch ist der Zeitpunkt nicht da, an dem man sich aufatmend in hochgeschlossene Baumwollnachthemden verkriecht und fürderhin nur noch flüchtige, zufällige Blicke auf Busen, Bauch und Po gestattet. Denn noch können die Kinder nur wenig sprechen. Bis dahin finden wir Nacktheit in der Familie wichtig, um den Kindern nicht aufzubürden, was wir zum Glück gerade losgeworden sind: Hemmungen. Schamhaftigkeit. Prüderie. Also flitzen wir fast splitterfasernackt zwischen Bett und Bad herum oder lesen sonntags in nachlässig auseinanderklaffenden Bademänteln die Zeitung. Früher konnten Kinder allenfalls auf der Wäscheleine gewisse Eindrücke von der Physiognomie der Erwachsenen erhaschen. Heute führen wir freimütig Gespräche über Vaginen und Penisse und antworten auf die Fragen unserer Kinder möglichst direkt. Wir stellen uns auch nicht weiter an, wenn die Kinder kichernd im Waschbecken Tampons aufquellen lassen, um sie dann an die Fliesen zu klatschen, und lächeln höchstens etwas gezwungen, wenn wir auf Nachfrage erklären müssen, wozu die Dinger gut sind. Frohgemut und bewusst gelassen wechseln wir selbst am Strand den nassen Badeanzug und schütteln verständnislos den Kopf, wenn der Siebenjährige nach einem Zirkuszelt verlangt, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Mit zehn, elf Jahren dann wird er mindestens drei Badehosen übereinander anziehen und zum Umkleiden meilenweit hinter blickdichte Wände wandern. Eigentlich glauben wir nicht, dass Kinder angesichts großer nackter behaarter Eltern erschrecken könnten, und verzich ten auf eine gewisse Privatsphäre im Bad und auf der Toilette. Selbstbewusst stehen wir dazu, dass wir nicht so perfekt aussehen wie die Männer und Frauen in der Werbung und schließen nicht ab, bevor wir in die Badewanne steigen. Sollen sie doch ruhig sehen, dass es im Leben nicht nur auf flache, muskulöse Bäuche ankommt. Meine Kinder durften mich nackt sehen, immer. Ausnahmslos. Bis das erste Kind das erste Mal sagte … Oh nein, ich schaffe es nicht, das aufzuschreiben. Seitdem halte ich meine Blößen bedeckt und werde sie nie wieder dem ätzenden Spott meiner Nachkommenschaft preisgeben. Auch sind große Kinder überaus schamhaft. Bevor sie das Haus in tiefsitzenden Jeans oder hautengen Leggins und winzigen Spaghettiträgerhemdchen verlassen, verbringen sie Stunden hinter der verriegelten Badezimmertür. Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher