Mutti packt aus
Ausgaben der Apothekenumschau zu blättern. Ich beiße die Zähne zusammen und mache in engen Fluren von Ballettschulen schlechten Small Talk mit anderen Müttern und finde eisern alle nett, wirklich, sehr nett. Stündlich entscheide ich neu, was ich mit den ungenutzten Minuten zwischen Bringen und Abholen anfange. Reicht es, um das andere Kind zum Fußball zu bringen oder riskiere ich mutig die Knolle, parke im Parkverbot und schaffe den Wochenendeinkauf?
Als fahrbarer Untersatz von vier vielbeschäftigten Kindern kommt man ganz schön rum. Und so bin ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, ein Teil von jener tadelnswerten Kraft, die nur das Gute will und stets das Böse schafft. Ich rangiere, fahre rückwärts, überhole, behindere und drehe voll auf. Vom Stau in der 30er Zone bin ich ein Teil. Mit flotten fünfzig Sachen fliege ich in der verkehrsberuhigten Straße über die Schwellen, für deren Errichtung ich einst gekämpft habe. Vor Fußballplätzen, Zahnarztpraxen und Schwimmbädern halte ich nassforsch in dritter Reihe, schalte das Warnblinklicht an und habe nur Augen für meinen kleinen Sonnenschein: Ich lass dich hier raus – aber pass auf, wenn du aussteigst!
Werde ich angehupt, angepampt und angemotzt, reagiere ich zum Schein schuldbewusst und schlage die Augen schamhaft nieder – ja, ich weiß ja, aber was soll ich denn machen? Ist doch nicht meine Schuld, wenn die Großstädte heutzutage nicht nur unwirtlich, sondern auch so gefährlich sind, dass man kein Kind alleine auf die Straße schicken kann.
Ohne pausenlose Fahrbereitschaft jedenfalls stehen alle Räder still, wenn die Mutter nicht mehr will. Kein Junge könnte mehr kicken, kein Ruderboot käme zu Wasser, kein Zahn würde gerichtet, Kieferorthopäden träfe man nur noch im Job Center, kein Mädchen übte mehr den pas de chat , Pferde blieben unbewegt und ungekost. Kindergeburtstagspartys wären praktisch unbekannt und niemand würde mehr schwimmen lernen.
Doch damit ist jetzt Schluss. »Ab heute fahrt ihr mit dem Bus!«, rufe ich in dem stark enthusiasmierten Tonfall, in dem ich gewöhnlich tolle Überraschungen verspreche. Geschickt lasse ich den Brief verschwinden, den ich eben aus dem Kasten gefischt habe. Darin steht, dass ich meinen Führerschein beim nächsten Polizeirevier abgeben soll, wo sie ihn drei Monate lang für mich aufbewahren wollen. Wie peinlich! Ich hole tief Luft und schwärme vier verdatterten Gesichtern von den Vorzügen einer CO 2 -neutralen Kindheit vor, von den Abenteuern, die man in Bussen und Bahnen erleben kann, vom Rausch der Selbständigkeit, der das Finden eigener Wege in der Stadt wie im Leben begleitet. »Ab heute sind nur noch Freunde, Hobbys und Kieferorthopäden erlaubt, die ihr allein erreichen könnt. Kindergeburtstage jenseits von Schöneberg sind gestrichen.«
»Und wenn ich Moritz in Charlottenburg besuchen will?«, fragt mein Jüngster. »U-Bahn«, sage ich. »Da muss man umsteigen«, meint er. »Üben wir«, sage ich.
Im Flur hängt jetzt ein riesiges Poster mit allen Berliner Bus- und Bahnverbindungen, vor dem ich abends spannende kleine Quizrunden veranstalte. Spielerisch lasse ich sie Fahrzeiten heraussuchen, Umsteigemöglichkeiten beschreiben und frage U-Bahn-Linien, Busrouten und Fußwege ab. Wer die aktuellen Schienenersatzverkehrstrecken kennt, wo die U-Bahn umgebaut wird, kann einen Extra-Punkt ergattern. Wer die U-Bahn-Linien in den richtigen Farben und Himmelsrichtungen aufsagen und auch die Endbahnhöfe herunterbeten kann, ohne den Geschwister-Joker zu bemühen, liegt weit vorne. Zum Geburtstag schenke ich jedem Kind eine gaaaanz tolle Monatskarte.
Eines Tages ist es so weit: Bestens vorbereitet tritt der Jüngs te seine erste selbständige Fahrt an. Ich bringe ihn zum Bahnhof, setze ihn in den Zug. Er winkt herzerweichend, als sei’s ein Abschied für immer. Als der Zug losfährt, wird mir plötzlich mulmig. Was alles passieren kann! Wenn die U-Bahn nun stecken bleibt? Entführt wird? Ein Brand ausbricht? Ich muss jetzt sehr tapfer sein. Er hatte mir hoch und heilig versprochen, per SMS die glückliche Ankunft fünf Stationen weiter mitzuteilen. Eine bange halbe Stunde später – immer noch nichts. Ich wollte gerade ein bisschen hysterisch werden, da kommt die SMS: »Bin jetzt da. Gehe gerade über den Kaiserdamm. Hdgdl. Kuss!«
Wie du schon wieder
aussiehst!
»Manno, Mama«, stöhnt meine Tochter und deutet auf den Ketchup-Fleck auf meinem T-Shirt. »So kannst du doch
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