My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
ein, der unterhalb der Burgruinen lag. Die Pferde wurden im Stall eines Gasthofes untergebracht, dem größten Gebäude im ganzen Ort. Flora und ihre Freundin waren nicht enttäuscht, daß die Überreste von Dalney Castle keinen eindrucksvollen Anblick boten, denn sie kannten sie schon von vielen Picknicks, die hier stattgefunden hatten. Dennoch machte es ihnen immer noch Spaß, die dachlosen Türme über geborstene Treppen zu erklimmen und tiefe Löcher und Gewölbe zu erkunden, die einst Verliese gewesen sein mochten.
Anfänglich durchstöberten sie die Anlage zu viert, doch nach einer Weile trennten sich Bernard und Flora von Mr. Forester und Miss Osgood. Er erläuterte ihr die Bauweise der Burg und wies sie auf viele architektonische Besonderheiten hin.
Lionel verkündete Miss Osgood, eine Frau, die angeblich verliebt sei, müsse das auch unter Beweis stellen.
Nach einer endlos wirkenden Zeit traf Walter Cottle ein. „Ihr hättet auf mich warten können!“ sagte er verärgert. „Es war doch klar, daß ich mit dem Gig nicht so schnell nachkommen konnte.“
„Dann hätten Sie gar nicht am Ausflug teilnehmen sollen“, erwiderte Lionel und fügte mit unverfrorener Offenheit hinzu: „Ich finde Sie hier vollkommen überflüssig!“
„Ist das auch deine Meinung?“ wandte Walter sich an Miss Osgood und schaute sie traurig an.
Zu gutherzig, um Mr. Cottle gekränkt zu wissen, antwortete sie: „Nein. Du weißt doch, daß ich mich immer freue, dich zu sehen.“
„Wenn dem so ist, werden Sie sicher mit ihm heimfahren wollen“, sagte Lionel mißmutig und schlenderte zum Torhaus.
Verwirrt und schwankend zwischen den Gefühlen für Mr. Forester und der Freundschaft zu Walter Cottle, sah Madeleine ihm nach.
Flora wollte etwas äußern, das Madeleine über die Verwirrung hinweghalf, doch ihr fiel nichts ein.
Bernard hatte mit dem Bediensteten der Herberge gesprochen, kam zurück und verkündete: „Es ist alles ins Torhaus gebracht worden. Gehen wir essen?“ Die kleine Krise war abgewendet.
Man begab sich in das zweistöckige Haus. Der untere Raum war sehr eindrucksvoll. Er hatte eine schöne Stuckdecke, die von Bernard gezeichnet worden war, zwei bunte Bleiglasfenster, die aus einer Kirche zu stammen schienen, und einen großen Marmorkamin, in dem ein Feuer brannte. Mitten im Zimmer stand ein reich gedeckter Tisch mit erlesenen Delikatessen.
„Wie ist das alles hergekommen?“ wunderte sich Flora, während man sich setzte.
„So viele Köstlichkeiten!“
„Das meiste haben wir gestern gekauft“, erklärte Lionel. „Der Wirt hat es für uns zubereiten lassen.“
Man begann zu speisen, und die Stimmung war heiter und unbeschwert. Selbst Walter genoß das Dinner, obgleich er nicht viel zur Unterhaltung beitrug.
Lionel schickte den Diener aus dem Gasthof fort, damit man unter sich war. Er selbst schenkte die aus dem Keller von Vale Manor entwendeten Getränke ein. Es gab reichlich zu trinken – Champagner, Sherry, Rotwein und Cognac.
Jeder amüsierte sich und scherzte. Es war erstaunlich, wie die Abwesenheit Erwachsener zu der ausgelassenen, entspannten Atmosphäre beitrug. Sogar Mr.
Cottle wurde ein wenig lockerer, und Lionel schenkte ihm großzügig nach.
Madeleine, die zwischen ihm und Walter Cottle saß, fühlte sich wundervoll. Sie spürte, daß ihre Wangen sich mit der Zeit röteten, und sah mit strahlendem Blick Mr. Forester an.
„Wir werden bald heimfahren müssen“, sagte Bernard schließlich bedauernd.
„Aber vorher würde ich gern noch einen kleinen Spaziergang durch die Ruinen machen.“
„Kann ich mit dir kommen?“ fragte Flora eifrig.
„Ja.“ Er stand auf, holte ihren Mantel und half ihr hinein.
Auf dem Weg zur Tür bekam sie plötzlich Bedenken. Vielleicht war es besser, wenn sie bei Madeleine blieb. Durch den Ausflug hatten sie bereits aller Konvention getrotzt, und es verstand sich von selbst, daß sie und Madeleine aufeinander achteten. Sie blieb stehen und drehte sich zu der Freundin um.
Madeleine und Mr. Forester unterhielten sich leise. Walter hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und hörte zu. Beruhigt, daß in seiner Anwesenheit nichts Unrechtes geschehen konnte, eilte Flora ins Freie, um Bernard einzuholen.
Nach der Wärme im Torhaus war es an der Luft kühl und frisch. Flora fröstelte und machte Anstalten umzukehren, doch Bernard nahm sie bei der Hand und rannte mit ihr über die Wiese. Vom Meer her war Dunst aufgezogen, und in diesem weichen Licht
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