My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
bei euch zu verbringen. Dagegen erhebt sie bestimmt keine Einwände. Und du sagst deinen Eltern, daß du am selben Tag bei uns erwartet wirst. Dann fahren wir alle nach Dalney Castle, und niemand merkt etwas. Aber wir müßten vor Anbruch der Dunkelheit zurück sein.“
„Bravo!“ Lionel war beeindruckt. „Der Einfall hätte von mir sein können!“
„Glauben Sie, daß es klappen könnte?“ fragte Flora zweifelnd.
„Hm, ja, wahrscheinlich“, antwortete Bernard an seiner Stelle. „Du stattest Miss Osgood doch oft Besuche ab, die den ganzen Tag dauern, und umgekehrt. Aber was passiert, wenn Mrs. Osgood und deine Cousine sich zufällig in der Stadt begegnen und irgend etwas äußern, das die beiden mißtrauisch macht und uns schließlich verrät?“
„Nun, dann wäre es zu spät!“ sagte Lionel mit Nachdruck.
Madeleine hatte eine bessere Idee und warf rasch ein: „Wenn wir Montag fahren, laufen wir nicht Gefahr, daß Mutter und Miss Fenimore sich treffen. Dann ist Mama bei Mrs. Preece in Parr Cross. Sie nimmt mich nicht mit, weil sie nicht will, daß ich mich zu sehr mit Mrs. Preeces Enkelinnen anfreunde. Sie findet die Mädchen vulgär.“
Flora war überrascht. Madeleine hatte oft die strengen Regeln ihrer Mutter bedauert, jedoch nie die Grundsätze von Sitte und Anstand in Frage gestellt. Nun jedoch, als sie erwähnte, daß Mrs. Osgood auf Mrs. Preeces Enkelinnen verächtlich herabschaute, hatte zum ersten Male ein mißbilligender Ton in ihrer Stimme mitgeschwungen.
Beim Spaziergehen wurde das Vorhaben diskutiert, doch nach einer Weile trennten sich die beiden Paare und schlugen verschiedene Richtungen ein.
Kaum mit Miss Osgood allein, schlang Lionel ihr den Arm um die Taille und fragte begierig: „Sind Sie stolz auf mich, weil ich dieses kleine Abenteuer für Sie arrangiert habe? Werden Sie mich für meine Klugheit belohnen?“
„Und wie soll ich das?“
„Das wissen Sie genau! Lassen Sie mich das tun, was ich gestern und vorgestern und all die anderen vergangenen Tage wollte!“
„Nein, das kann ich nicht. Lionel, so etwas darf ich nicht. Es ist falsch, sich zu küssen. Jeder sagt das.“
„Ach, nur Ihre Mutter behauptet das. Ich habe großen Respekt vor Ihren Eltern, aber sie haben Sie furchtbar weltfremd erzogen. Sie wissen, daß wir uns mit Frankreich im Krieg befinden, und auch, daß ich in die Armee eintreten werde.
Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, ich könne in zwei, drei Monaten tot sein?“
„O nein, Lionel!“ hauchte Madeleine entsetzt.
„O doch!“ entgegnete er. „Stellen Sie sich vor, Madeleine, wie ich auf dem Schlachtfeld verblute und mich des hartherzigen Wesens erinnere, das mir den letzten Wunsch verweigert hat.“
Madeleine war bereit, sich Mr. Forester in die Arme zu werfen, doch im gleichen Moment knackte es im Gebüsch. Irgendjemand näherte sich, und in der Annahme, es seien Mr. Channing und Flora, löste sie sich erschrocken von Mr.
Forester. Plötzlich erschien jedoch Mr. Brooke auf dem Weg.
„Was machen Sie hier, Sir?“ fragte Lionel und bemühte sich, die Verärgerung nicht zu zeigen.
„In Lord Canfields Abwesenheit kümmere ich mich um seinen Besitz“, antwortete Tom schmunzelnd. „Manchmal fühle ich mich versucht, ihn um eine Anstellung als Verwalter zu bitten. Aber mich interessiert, was du und Miss Osgood hier macht.“
„Wir sind mit Mr. Channing und Miss Flora Fenimore im Park. Sie müssen irgendwo in der Nähe sein.“
„Dann sollten wir sie suchen“, erwiderte Tom lächelnd, stellte sich zwischen Lionel und Miss Osgood und reichte ihr den Arm.
Unsicher und nervös geworden, legte sie ihm die Hand auf den Arm und folgte ihm, bis sie Mr. Channing und Flora gefunden hatten. In Mr. Brookes Begleitung verließen sie dann den Park.
Am späten Nachmittag begab Olivia sich zu ihrer Schneiderin. Mrs. Chapman war mit einem Uhrmacher verheiratet, und man mußte durch sein Geschäft, um in das kleine Schneideratelier zu gelangen. Sie betrat den Laden und nickte Mr.
Chapman zu, der einen Kunden bediente.
Peter Chapman entschuldigte sich bei dem Gentleman und sagte: „Ich werde meine Frau holen, Madam.“
Als er ging, drehte Tom sich um und sah sich Miss Fenimore gegenüber. „Wie geht es Ihnen, Madam?“ erkundigte er sich höflich.
„Gut, vielen Dank, Sir.“
Es gab ein verlegenes Schweigen. Dann sprachen Tom und Olivia gleichzeitig und verstummten wieder.
Schließlich äußerte er: „Ich glaube, Sie sind mehr oder weniger
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