My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
wirkten die Ruinen geheimnisvoller und romantischer als im grellen Sonnenschein.
Bernard meinte, nun würde es wirklich Zeit zur Heimkehr, und unwillkürlich bedauerte Flora, daß sie den zauberhaften Ort schon verlassen mußten. Sie kehrte mit dem Freund in das Torhaus zurück.
Im Zimmer war es unerwartet still. Das Feuer war heruntergebrannt, und nur Walter saß noch gebeugt am Tisch, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt.
„Du meine Güte!“ sagte Flora betroffen. „Was hat er? Ist er eingeschlafen?“
„Nein, betrunken“, antwortete Bernard. „Der dumme Kerl! Das ist meine Schuld.
Ich hätte ihn davon abhalten sollen, so viel Wein zu trinken.“ Er rüttelte ihn an der Schulter und fragte: „Wo sind Madeleine und Mr. Forester?“ Da er keine Antwort bekam, nahm er die Wasserkaraffe, leerte sie über dem Kopf des Freundes aus und wiederholte die Frage.
„He!“ Abrupt richtete Walter sich auf. Er schüttelte die Nässe aus den Haaren, wischte sich das Gesicht ab und blickte sich verwirrt um.
Flora hörte Stimmen, die aus dem oberen Stockwerk drangen. „Madeleine und Mr. Forester sind hinaufgegangen“, sagte sie. Plötzlich war ein leiser Schrei zu vernehmen. Erschrocken lief sie zur Treppe und rief: „Madeleine! Sir! Wo seid ihr? Wir müssen nach Haus!“
Nichts geschah. Erst nach geraumer Weile erschienen Lionel Forester und Madeleine Osgood auf der Wendeltreppe. Seine Miene war finster, und bei Madeleines Anblick war Flora entsetzt. Die Freundin wirkte verstört, war kreidebleich und bewegte sich seltsam steif. Haltsuchend klammerte sie sich an das Treppengeländer und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. „Was hast du, Madeleine?“ fragte Flora beklommen. „Fühlst du dich nicht wohl?“
„Die Hitze ist ihr zuviel geworden“, antwortete Lionel rasch.
„Ja, deshalb sind wir nach oben gegangen“, murmelte Madeleine tonlos.
Schweigend wandte sie sich ab, als Lionel hilfreich die Hand ausstreckte.
Man verließ das Torhaus und ging zum Gasthof zurück. Jäh war die heitere Stimmung des Abends zerstört.
Flora hielt sich neben der Freundin und erkundigte sich bang: „Kann ich dir irgendwie helfen? Bitte, sag mir, was nicht in Ordnung ist.“
„Ach, hör auf, mich zu belästigen!“ antwortete Madeleine schroff.
Im allgemeinen war es nicht ihre Art, einen derart unfreundlichen Ton anzuschlagen, und Flora merkte, daß irgend etwas die Freundin aus der Fassung gebracht haben mußte. Sie wußte nicht, was sie tun sollte.
Walter war zu sich gekommen und redete vernünftig, aber dennoch hatte Bernard Zweifel, ob der Freund imstande sei, allein mit dem Gig heimzukehren.
Flora überlegte, ob es richtig sei, Madeleine mit Mr. Forester fahren zu lassen.
Wahrscheinlich war es besser, mit ihr den Platz zu tauschen. Unschlüssig grübelte sie darüber nach, ob sie es Lionel Forester vorschlagen sollte. Sie ahnte, daß er darüber bestimmt nicht erbaut sein würde.
Schließlich war es jedoch zu spät, den Einfall zu äußern. Ein Stallbursche des Gasthofes hatte Miss Osgood bereits in die Karriole geholfen.
Lionel setzte sich neben sie, schnalzte mit der Zunge und trieb das Gespann an.
Flora nahm neben Bernard im Phaeton Platz, und Walter kletterte auf den Sitz des Gig. Einen Moment später folgten die beiden Wagen der vorausfahrenden Karriole.
Lionel hieb auf die Pferde ein und hielt sie zu halsbrecherischem Tempo an. Flora sah seine Kutsche gefährlich schwanken, drehte sich zu Walter um und bemerkte, daß er weit zurückgeblieben war.
Kurz vor der Abbiegung nach Brantisford hielt Lionel das Gespann so jäh an, daß Bernard mit dem Phaeton fast in die Karriole gefahren wäre.
„Was soll das?“ schrie er Mr. Forester zu, lenkte die Braunen an den Straßenrand und hielt neben der Karriole an.
„Ich kann halten, wo ich will“, erwiderte Lionel gereizt. „Fahren Sie weiter!“ Bernard fluchte und trieb das Gespann wieder an.
Im Vorbeifahren hörte Flora, daß Madeleine und Mr. Forester sich laut stritten.
Bernard bog auf die nach Parmouth führende Straße ein, und nach einer Weile hörte er, daß Mr. Foresters Karriole ihm folgte.
Plötzlich bemerkte Flora einen langsam auf der Straße gehenden Mann. Sie achtete nicht weiter auf ihn und fragte: „Bernard, findest du Lionel Forester nett?“
„Ich mochte ihn, aber inzwischen bin ich anderer Ansicht“, antwortete er. „Er will immer seinen Kopf durchsetzen und denkt nur an sich!“
„Nun, ich hoffe, er denkt
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