Myrddin
neu. Der eigene Kummer schmerzte nicht mehr so sehr, und sie verstand die Not, in der Palluck sich befunden haben mußte, in der ihm niemand helfen konnte. Er war in innere Not geraten, auf der Suche nach Irene einerseits und andererseits die Verpflichtung gegenüber Tralee und Brian zu tragen. Urplötzlich begriff sie, daß Palluck die einzig richtige Entscheidung für sein Leben allein getroffen hatte, obwohl es sie verletzte und die Trauer blieb.
Myrddin saß und hatte zugehört. Palluck mußte Vertrauen zu ihm gefaßt haben und sorgte über seinen Abschied hinaus dafür, daß Myrddin seine Ziele verfolgen konnte, soweit es seine Mittel zuließen. Myrddin war bewegt und erinnerte sich an die letzten Augenblicke, da sie sich in die Arme genommen hatten. Er hatte sich alt, väterlich und erhaben gefühlt. Jetzt, da er den Inhalt des Briefes kannte, war er verlegen und klein geworden. Palluck war es, der sich anschickte, sich um den Seher sorgen zu wollen, wie er es auch für Brian wollte. Das geisterte Myrddin durch den Kopf – seine Erhabenheit den Menschen und der Gegenwart gegenüber, sobald er auftreten und sicheren Boden unter den Füßen spüren konnte, und seine Wendigkeit unter Menschen, angesichts der bevölkerten Welt. Es war ein Gespinst: er fühlte sich überlegen, saß jedoch in einer feuchten, brackigen Höhle mit einem Eiskragen. Er versteckte sich vor den Menschen, die ihn fangen wollten, und ärgerte sich über die Launen einer einzelnen alten Frau. Die Jäger allerdings würden nicht wissen, worauf sie sich eingelassen hatten, sagte er sich zum Trost.
„Das ist doch ein schöner Brief, Leslie, und er ist typisch für die Bescheidenheit von Jeremiah, finde ich“, sagte er versöhnlich, ohne auf die Gefühlsmomente einzugehen, die Palluck in seinen Zeilen erwähnt und die Myrddin und Tralee längst erkannt hatten. Weshalb hatte sie die Passage vorgelesen, in der es um sie und ihn gegangen war? Sie hätte sie überlesen oder auslassen können. Wollte sie ihm dadurch ihre Haltung offenbaren und seine Empfindungsgabe beleidigen, da er die Zuneigung Tralees selbstverständlich empfunden hatte, ihr aber nicht entsprach? Oder hatte er es als Integrität zu verstehen, den Willen und die Worte Pallucks getreu wiederzugeben?
„Und es geht ganz eindeutig daraus hervor, daß du ihn zu dieser Entscheidung verführt hast, William“, sagte sie abweisend, da der Glanz in ihren Augen die Nähe zu einer anderen Welt verriet.
„Darüber will ich mit dir nicht sprechen, Leslie, denn falls es so wäre, will ich nicht auch noch dich verführen, an Dinge zu glauben, die in dir schlafen, für die du mich aber verantwortlich machen würdest.“
„So ziehst du dich aus der Affäre!“
„… in der ich niemals gewesen bin. Verschüttest du dein Wesen und erblickst es plötzlich wieder, habe nicht ich ein neues Wesen in dich gesetzt, sondern du selbst hast es geformt und nur wiedergefunden, was du verschüttet hattest, Leslie. Wenn du dich verirrt hast und deinen Heimweg nicht wiederfinden kannst, kann ich dir nur bei der Suche behilflich sein, aber dein Heim hast du dir selbst geschaffen, zu dem du zurück wolltest. Und wenn du von deinem Herd nichts mehr wissen möchtest und die Tür hinter dir schließt, so kannst du dich nicht verirren und findest überall ein Zuhause. Denke darüber nach und übertrage mir keine Verantwortung, sondern stelle dich zuerst deiner eigenen, Leslie. Die Menschen machen aus der Verantwortung, die sie anderen unterschieben, zu schnell Schuldfragen. Und deiner Schuldzuweisung bin ich nicht gewachsen, weil ich an deine Moralität, mit der du erwachsen geworden bist, nicht glaube. Also lasse uns die Dinge sehen, wie sie sind. Jeremiah hat sich auf den Weg zu Irene gemacht und weshalb sollten wir glauben, daß es ihm schlechter geht als zu den Zeiten, da er mit uns zusammen war?“
„Ich glaube an keine Meerjungfrauen … und Jerry ist nicht auf dem Weg zu seiner Irene, sondern er ist tot … er hat sich das Leben genommen … Selbstmord … Suizid … so nennt man das, William. Deine Poesie in Ehren, aber sie ist ein Dreck, wenn es um Menschenleben geht. Erzähle den Kindern vom Himmel und dem gütigen Vater, dem lächelnden Mond, von Harfen und von Elfchen, aber das sind doch Märchen. Wache auf! Jerry ist tot! Wir müssen damit leben. Es geht ihm weder gut noch schlecht … es geht ihm gar nicht mehr. Er ist tot – nicht verschieden, oder fortgegangen, noch ruht er irgendwo sanft.
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