Myrddin
hatte ihre Scham preisgegeben und hockte mit dem Alten in einer Höhle – bezichtigt des Mordverdachtes, den er gelassen hinzunehmen schien. Sie wußte von religiösen Fanatikern, die ihre Umgebung manipulieren konnten, die aber toxisch für den Menschenverstand waren, was sie am Beispiel Pallucks, der ihm bereits zum Opfer gefallen war, eindeutig belegen könnte. Oder konnte sie sich täuschen? Warum wollte Myrddin seinen richtigen Namen nicht nennen? Was hatte er zu befürchten? War es seine Art und der Inhalt seines Glaubens, Menschen in den Tod zu treiben? Hatte es in der Schweiz nicht einen schrecklichen Kollektivmord einer Sekte gegeben, von dem sie gehört hatte – irgendeiner dieser Templerorden, dessen Mitglieder sich umgebracht hatten? Und war der Gründer dieses Ordens nicht ein Amerikaner oder Kanadier gewesen? Hatte man ihn gefunden? Wie war das mit dem Nordamerikaner?
Sie überlegte und erschrak plötzlich, da sie nicht mit Sicherheit wußte, ob Myrddin ihre Gedanken lesen konnte oder nicht. Er hatte ihr nicht bewiesen, ob ihr Schädel wie bloße Cellulose für ihn war, und deshalb fühlte sie sich um so verunsicherter.
Die Zeit floß wie zähes Öl durch die Finger und das, was Tralee in Pallucks Gegenwart an Myrddin bewundert hatte, stieß sie nun ab. Der Tag verging und Brian war bis zum späten Nachmittag nicht gekommen. Tralee und Myrddin hatten aufgehört, miteinander zu sprechen, da sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Tralee hatte noch einmal den Tod Pallucks beweint, bis sie wieder in die Gegenwart zurückkehrte und eigentlich erwartete, daß sie von der Polizei oder Bishops Suchtrupp festgenommen würden, was sie sich manchmal sogar wünschte. Man würde sie dann sicherlich bald wieder freilassen, da Pallucks letzter Brief ein Beweisstück ihrer Unschuld wäre. Auch Myrddin könnte man wegen des Todes von Palluck nicht anklagen, aber sie kannte die Gesetze nicht so genau, das sie nicht mit Sicherheit hätte sagen können, ob man ihn nicht für die Anwesenheit bei einem Selbstmord juristisch belangen könnte, und mit Sicherheit würde die Feststellung seiner Identität ihn in Schwierigkeiten bringen, da er keinen Ausweis besaß.
Schlecht konnte es Myrddin mit ihr nicht gemeint haben, dachte sie. Er hatte ihr seinen Anorak in der Nacht übergelegt, damit sie nicht fror, und er hatte durchaus Gedanken, die bestechend waren. Sicherlich hatte man sie verletzt und ihre Wunden waren noch frisch – aber weshalb distanzierte er sich von allem Menschlichen? Weshalb tat er, als sei er aller Menschlichkeit überlegen? Er hatte sie alle betrogen. Das schien ihr festzustehen. Aber weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht.
Geräusche der Brandung, an die sie sich während des Tages gewöhnt hatte, tönten monoton durch den Nebel. Der Wind hatte aus Westen aufgefrischt, und plötzlich jagte ein stählernes Knirschen durch die dichten Schwaden. Sie spürte, daß das Geräusch von einem Fremdkörper kommen mußte. Er war etwas dumpf Schabendes, als würde jemand ein riesiges Messer an Steinen schleifen wollen, und so plötzlich dieses Geräusch sie aus ihren Gedanken gerissen hatte, so schnell war es verstummt. Tralee hatte schreckliche Angst, zumal sie allein war, da Myrddin kurz zuvor die Höhle verlassen hatte, um an die Luft zu gehen.
Verliere ich schon meinen Verstand? Drehe ich langsam durch? Ist es schon soweit …, fragte sie sich und wußte nicht, was ihren Verstand herausfordern wollte. Zitternd preßte sie ihre Fäuste gegen ihre Schläfen und schrie ihre Verzweiflung gellend hinaus in den Nebel, der nun schon Wochen währte, hinaus in eine Welt, von der sie nicht einmal mehr wußte, ob es sie noch jenseits der Nebel gab … und ob es sie jemals gegeben hätte. Ihr war, als hätte sie den Verstand verloren. Ihr Leben war binnen weniger Stunden zusammengebrochen. Ihr Haus hatte man angezündet, an dem sie ihr Leben lang gebastelt hatte. Sie vermochte nicht mehr zwischen ihren Träumen und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Hatte es überhaupt ein Geräusch draußen gegeben? Sie lauschte einen Moment, doch hörte nichts als den knisternden Dunst, der am Höhleneingang zu Eis gefror – und die ferne Brandung. Und wieder schrie sie vor Verzweiflung, bis plötzlich Myrddin in die Höhle stürzte.
„Leslie … sag einmal …! Deine Schreie werden von dem Nebel weit getragen. Willst du uns verraten …? Willst du, daß man uns entdeckt?“ fragte er ernst und besorgt, da er Tralees geistigen
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