Myrddin
Leben hatte und der überwirklich über die Totenreiche der Zeit hinwegblickte, als wäre er erblindet.
Der Zauberer stand wie versteinert. Seine Haltung war majestätisch und in seinen Augen glitzerten die Sterne des Mondes, den er nicht kannte. So hatte Hörn Myrddin noch nicht erlebt. Hörn wußte nicht, wie er sich dem Seher nähern sollte.
Myrddin hob seine Arme und ließ Hörn zurückweichen. Er beugte sich zum Wasser hinab, übergoß sich damit und begann wieder zu atmen. Die letzten Schwaden der grauen Schleier strichen durch die Hohlgasse, die zum Hart Fell heraufführte, als Myrddin seine Luft atmen konnte, seine Bergmassive in sich einsog, seine Himmel herabholte und seine Lungen mit der Kraft der Winde füllte. Dann erst schritt er – als wären die Gwyllons nicht gekommen – zu seinem Eschenstab und setzte sich verklärt an seinen Grotteneingang, was Hörn vollkommen überraschte. Myrddin murmelte etwas vor sich hin, sprach Verse und Lieder und murmelte einen alten Vers, den Hörn kannte.
„… Tosen war im Saal,
trunkfroh die Männer,
niemand vernahm
das Nahen der Rosse,
bis das Horn erscholl
des beherzten Spähers … und so sagte einst Hamdir …
und meinte er es heute …?“
„Merlin, brauchst du meine Hilfe?“ fragte Hörn vorsichtig, als die Grauwölfe aus Schweden zurückkamen und sich ängstlich auf dem Hart Fell umsahen, den sie kaum wiedererkannten.
„Hörn …? Es geht mir gut … Atmen kann ich … und ich lebe offenbar …“, sagte Myrddin schwach und stöhnte etwas, was der Hirsch nicht verstehen konnte.
„Brauchst du etwas, Merlin? Ich, Hörn … ich frage dich“, vergewisserte sich Hörn, ob Myrddin wirklich bei Sinnen war.
Myrddin drehte seinen Kopf und sah ihn mit dem unbegreiflichen Blick eines alten Magiers an, der sein Leben immer noch nicht gelebt haben wollte.
„Ich weiß, daß du es bist, Hörn. Und ich … ich bin immer noch Merlin. Ich staune über meine Kraft … und freue mich über dich … Wir werden bald gehen müssen, mein Guter. Laß mich finden, was ich verstand … und dann … dann endlich werden wir wandern …“
Die Tiere bemerkten, daß es dunkel geworden war, und sie glaubten, Myrddin habe seinen Kristall in den Lederbeutel gesteckt. Sie sahen ihn abwesend an seinen Felsen gelehnt, lächelnd, doch für sie noch nicht ansprechbar, und der Schrecken der Gwyllons saß tief in ihrem Bewußtsein.
Mit aller Kraft hatten sie versucht, sich an Skandinavien zu erinnern, und sich den klugen, weisen Kopf ihres Oberhauptes vorgestellt. Sie hatten Carus und Samael gesehen, hatten sich ein zweites Mal von ihm verabschiedet und sich trotz des Getöses an eine andere Umgebung geklammert, um in derjenigen, in der sie sich befunden hatten, weder ihre Sprache noch ihren Verstand verlieren zu müssen. Sie selbst wären zu Schattenwesen geworden, als die Wolken ihre Schlucht heimsuchten, dachte Pacis, hätten sie nicht auf Myrddin gehört und hätte Hörn sich nicht schützend vor sie gelegt. Doch nun waren sie wieder in Britannien. Sie waren am Hart Fell, gemeinsam mit Hörn und Myrddin.
Und der Seher stand entrückt auf, nahm seinen Stab und sagte, daß er etwas umherwandern wolle.
„Darf ich mitkommen, Merlin?“ fragte Hörn, der sich Myrddins nicht sicher war.
„Ich gehe allein. Und ich werde nicht lange fort sein. Habe Vertrauen. Es geht mir gut. Kümmere dich um Akita und Pacis. Ich werde in der Nähe sein …“, antwortete Myrddin, ging durch die steinige Gasse in den Wald Y Gogledd hinab und begrüßte die Nacht, die sich finster um sie legte und den Nebel über ihn warf. „O ja, mein Nebel … nimm mich in deine Umarmung, lindere mir die Schmerzen … und wir wollen eins werden … für Stunden.“
XXXI
Beunruhigt blickte Hörn zu den Wölfen. Noch nie hatte er erlebt, daß der Seher nach einer Begegnung mit den Gwyllons leichtfüßig stehen und gehen konnte, seinen Stab genommen hatte und spazierengegangen war. Myrddin war oft zusammengebrochen, hatte noch Tage danach unter Zuckungen gelitten, die seinen Körper durchliefen. Er brauchte in solchen Zeiten sehr viel Flüssigkeit – und Sanddorn hatte ihm meist die Kraft gegeben, die er körperlich verloren hatte.
Es war vorgekommen, daß sich Myrddin nach früheren Begegnungen mit den Geistern der Toten Honig und einen klebrigen Sirup über seinen Körper gegossen und sich in Hühnerfedern gewälzt hatte, bevor er wie irrsinnig schreiend durch den Wald gelaufen war. Einmal sogar hatte er
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