Myron Bolitar 03 - Der Insider
wie ihm Tränen in die Augen schössen. Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, sagte er. »Ich bin sicher, dass es passt.«
3
Ridgewood war ein nobler Vorort, eine von den alten Kleinstädten, die sich immer noch Dorf nennen, in der fünfundneunzig Prozent aller Schüler auf die Universität gehen und keiner duldet, dass sich seine Kinder mit den restlichen fünf Prozent herumtreiben. Es gab ein paar Wohnblocks, Auswüchse der Explosion der Vororte in den sechziger Jahren, aber zum größten Teil stammten die hübschen Häuser Ridgewoods aus einer älteren, zumindest theoretisch unschuldigeren Zeit.
Myron fand das Downing-Haus ohne Probleme. Alt, viktorianisch, geräumig, aber nicht unförmig, drei Stockwerke mit perfekt ausgebleichten Zedernschindeln. Links hatte es einen runden Turm mit spitzem Dach. Vorne eine große Veranda mit allem, was seit Norman Rockwells Gemälden für die amerikanische Idylle erforderlich war: die Hollywoodschaukel, auf der Atticus und Scout sich in einer heißen Nacht in Alabama eine Limonade teilen könnten, ein umgefallenes Kinderfahrrad, ein Plastikschlitten, obwohl der letzte Schnee vor sechs Wochen weggetaut war. Der obligatorische Basketballkorb hing leicht angerostet über der Einfahrt. An zwei Fenstern im ersten Stock glänzten die rotsilbernen Aufkleber, mit denen die Lage der Kinderzimmer für die Feuerwehr markiert war. Alte Eichen säumten den Gehsteig wie verwitterte Wachtposten.
Win war noch nicht da. Myron parkte und kurbelte ein Fenster herunter. Es war ein perfekter Märztag. Der Himmel war blau wie ein Rotkehlchen-Ei. Die Vögel zirpten auf klischeehafteste Weise. Er versuchte, sich Emily in dieser Umgebung vorzustellen, aber das Bild passte nicht richtig. Sie passte einfach besser in einen New Yorker Wolkenkratzer oder in eine dieser schneeweißen Neureichen-Villen mit Erte-Skulpturen und Silberperlen und viel zu vielen verschnörkelten Spiegeln.
Andererseits hatte er seit zehn Jahren nicht mehr mit Emily gesprochen. Vielleicht hatte sie sich verändert. Vielleicht hatte er sie damals auch falsch eingeschätzt. Wäre nicht das erste Mal.
Es war komisch, wieder in Ridgewood zu sein. Jessica war hier aufgewachsen. Sie kehrte nicht gern hierher zurück, aber jetzt hatten die zwei Lieben seines Lebens - Jessica und Emily - noch etwas gemeinsam: das Dorf Ridgewood. Es war ein weiterer Punkt auf der Liste der Gemeinsamkeiten beider Frauen - außer Myron treffen, von Myron umworben werden, sich in Myron verlieben, Myrons Herz wie eine Tomate unter einem Pfennigabsatz zermatschen. Das Übliche halt.
Emily war seine erste Freundin gewesen. Das erste Uni-Jahr war ziemlich spät, um seine Jungfräulichkeit zu verlieren, wenn man den Prahlereien seiner Freunde Glauben schenken durfte. Aber wenn in den späten Siebzigern oder den frühen Achtzigern tatsächlich eine sexuelle Revolution unter amerikanischen Teenagern stattgefunden haben sollte, dann hatte Myron sie entweder verpasst oder auf der falschen Seite gestanden. Frauen hatten ihn immer sympathisch gefunden - daran hatte es nicht gelegen. Doch während seine Freunde bis ins Detail von diversen orgiastischen Erlebnissen berichteten, schien Myron die falschen Mädchen anzuziehen, die netten Mädchen, die, die immer noch Nein sagten - oder gesagt hätten, wenn Myron mutig (oder vorausschauend) genug gewesen wäre, sie zu fragen.
Das änderte sich auf der Universität, als er Emily begegnete.
Leidenschaft. Ein ziemlich überstrapaziertes Wort, aber Myron fand, dass es hier passte. Es war jedenfalls nichts weniger als zügellose Lust gewesen. Emily gehörte zu den Frauen, die Männer eher »scharf« als »schön« nannten. Wenn man eine wirklich »schöne« Frau sah, wollte man sie malen oder ein Gedicht schreiben. Wenn man Emily sah, wollte man ihr und sich selbst die Kleider vom Leib reißen. Sie verkörperte ungebrochene Sexualität; sie war vielleicht fünf Kilo schwerer, als sie hätte sein sollen, aber diese fünf Kilo waren erlesen verteilt. Mit Myron zusammen hatte das eine explosive Mischung ergeben. Sie waren beide noch keine zwanzig Jahre alt, beide zum ersten Mal von zu Hause weg, beide kreativ.
In einem Wort: Kaboom.
Das Handy klingelte. Myron ging ran.
»Ich gehe davon aus«, sagte Win, »dass dein Plan einen Einbruch in die Downing-Residenz vorsieht.«
»Ja.«
»Dann ist es keine unbedingt weise Entscheidung, den Wagen direkt vor besagter Residenz zu parken, oder?«
Myron sah sich um. »Wo
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