Mysterium
gab nur die Indizien, die jedoch alle auf Tom hindeuteten. Der Anwalt machte den Vorschlag, Julia zu hypnotisieren, in der Hoffnung, dass sie sich an die Vorfälle im Keller erinnerte – an genug Einzelheiten zumindest, um die Geschichte ihres Vaters zu bestätigen. Der Anwalt wies jedoch darauf hin, dass keineswegs sicher sei, dass solche Zeugenaussagen von einem Gericht als unvoreingenommen oder auch nur als zulässig angesehen würden. Dennoch war es ihre beste Chance. Doch für Tom war offensichtlich, dass der Anwalt glaubte, einen Fall zu vertreten, der nicht zu gewinnen war, und seine Aktivitäten nur zum Schein entwickelte.
Tom und Clare diskutierten, ob sie Julia in die Sache hineinziehen sollten. Clare saß an Toms Bett und hielt seine Hand. Nicht einen Augenblick hatte sie in ihrer Überzeugung geschwankt, dass er unschuldig war, doch ihre Sorgen und Ängste zeigten sich in den dunklen Schatten unter ihren Augen und den Falten, die sich in den letzten zwei Wochen um ihre Mundwinkel eingegraben hatten.
»Wenn es unsere einzige Chance ist, müssen wir sie nutzen«, sagte sie.
Doch Tom hatte gründlich darüber nachgedacht und war bereits zu einer Entscheidung gekommen. »Das werde ich auf keinen Fall zulassen«, entgegnete er entschieden. »Julia hat das alles schadlos überstanden. Aber wenn wir sie die ganze Sache noch einmal durchleben lassen … wer weiß, welche Folgen das hat.«
»Und was ist mit den Folgen, wenn wir es nicht tun?«
»Ich werde meine Chancen nutzen. Tut mir Leid, Clare. Es tut mir alles schrecklich Leid, aber wir haben keine andere Wahl.«
VIERTER TEIL
Das Leben danach
56
»Sie glauben also selbst jetzt noch, dass Ihr Vater unschuldig ist?«
»ja.«
Die alte Frau wendet ihren Blick vom Fenster ab, vor dem sich in der flimmernden Sommerhitze ein grandioser Blick über Chicagos Skyline am Lake Michigan bot. Ihre Augen haben etwas Undurchdringliches an sich. Ich weiß nicht, ob es Traurigkeit ist oder höflich verborgene Antipathie oder vielleicht bloß Ausdruckslosigkeit.
»Nun, ich muss sagen, dass Ihnen solche Loyalität Ehre macht. Ich hätte mir dasselbe von meinen beiden Kindern erhofft, wenn ich es gebraucht hätte und wenn sie noch leben würden.«
Plötzlich liegt ein Ausdruck offener Abneigung in ihrem Blick. Sie will mich hier nicht haben und bereut, dass sie sich einverstanden erklärt hat, mich zu empfangen.
»Miss Freeman …« , sagt sie und stockt, und ich weiß, dass sie mir gleich sagen wird, dass das Gespräch beendet ist, »ich weiß nicht, was Sie von mir erwartet haben, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Es tut mir Leid für Sie – und nur für Sie –, dass Ihr Vater seit dreizehn Jahren im Gefängnis ist. Was mich angeht, freue ich mich, dass er bis zu seinem Lebensende hinter Gittern schmoren muss. Er hat meinen Sohn getötet, und er hat mindestens sieben Mädchen auf dem Gewissen, und beinahe hätte er auch Sie getötet.«
Sie muss fast achtzig sein, aber sie hat eine stählerne Selbstbeherrschung und einen scharfen Verstand. Und sie ist sehr zornig. Ich verstehe das, aber ihr Zorn wird es ihr schwer machen, mir zu helfen.
»Mrs. Hunt«, sage ich und wiederhole dann das Argument, das ich im Laufe der vergangenen Jahre oft und gegenüber sehr vielen Menschen vorgebracht habe: »Wenn mein Vater die Absicht gehabt hätte, mich zu töten, warum hätte er mich dann aus dem Feuer retten sollen?«
Sie blickt verächtlich zur Seite, als wäre meine Frage ihre Zeit nicht wert. »Ich weiß nicht, wie kriminelle Gehirne funktionieren«, entgegnet sie schroff, »und noch weniger verrückte kriminelle Gehirne. Außerdem war es kein spezielles Interessengebiet meines Sohnes. Deshalb bin ich nicht überrascht, dass er den Wahnsinn Ihres Vaters nicht erkannt hat, bis es zu spät war.«
»Das beantwortet nicht die Frage, Mrs. Hunt«, entgegne ich. »Wäre mein Vater als verrückter Krimineller betrachtet worden, hätte man ihn niemals vor Gericht gestellt.«
Wieder schleuderten ihre Augen Blitze in meine Richtung. »Aber er wurde vor Gericht gestellt, und er wurde für schuldig befunden.«
»Ich stelle das Urteil infrage.«
Sie seufzt ungeduldig – ein kurzes, scharfes Ausatmen, das mich warnt, dass meine Zeit abläuft.
»Das ist sinnlos«, sagt sie und macht eine knappe Handbewegung, als wollte sie Staub fortwischen. Sie sitzt kerzengerade auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehre und trägt ein langes, schwarzes Kleid mit hohem Rüschenkragen, das zu warm
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