Mysterium
von Julias Therapiestunden bei Hunt erzählte. Als er fertig war, fragte sie: »Hat sie von mir geredet?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte er und sah Clare fragend an, die den Kopf schüttelte.
»Es scheint, dass es bestenfalls Erinnerungsfetzen sind«, fuhr Tom fort. »Sie hat nie etwas darüber gesagt, dass sie von zu Hause weggelaufen ist oder was mit ihr passiert ist. Sie hat nicht einmal gesagt, woher sie kam. Es ist purer Zufall, dass wir hier sind. Jedenfalls dachten wir das, aber so langsam kommen mir Zweifel, um ehrlich zu sein.« Hilflos breitete er die Hände aus. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
Beim Klang von Julias Schritten drehten alle drei sich um. Sie kam aus dem Zimmer, den Arm voller CDs, Videokassetten und Heften.
»Das sind alles meine«, sagte sie. »Kann ich sie behalten, Mommy?«
Sie hatte die Frage an Clare gerichtet, die einen Augenblick überrascht war.
»Das fragst du besser Jennifer«, sagte sie.
Julia drehte den Kopf um die Frage zu stellen, doch Jennifer kam ihr zuvor. »Du kannst dir aus dem Zimmer mitnehmen, was du willst, Schatz«, sagte sie, »solange deine Mom einverstanden ist.«
Sie bezog sich sehr deutlich auf Clare. Tom erkannte, dass er diese Frau mehr mochte, als er anfangs vermutet hatte, trotz ihres unangenehmen Ehemannes. Ihm entging auch nicht die Wärme in Clares Augen, als sie Jennifer dankbar anlächelte, aufstand und für Julia die Arme ausbreitete. »Natürlich kannst du die Sachen behalten, mein Schatz. Ich helfe dir, sie zum Auto zu bringen.«
Sie gingen nach draußen. Jennifer sah zu, wie Julia sorgfältig ihre »wiedergefundenen Besitztümer« auf dem Rücksitz verstaute.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte sie Tom plötzlich leise ins Ohr, sodass Julia es nicht hören konnte, »aber jedes der Teile, die sie ausgesucht hat, hat meiner Schwester gehört …«
Es schien, als wäre Julia von einer Art Fieber befreit. Sie war wieder ganz sie selbst – sanftmütig, freundlich, ganz und gar Tom und Clares Kind. Sie erhob keine Einwände, zum Hotel zurückzufahren, und verabschiedete sich höflich von Jennifer – nicht wie von einer vor langer Zeit verlorenen Schwester, sondern wie von einer neuen Bekanntschaft, die sie an diesem Nachmittag gemacht hatte.
»Ich glaube, wir werden in Kontakt bleiben müssen«, sagte Tom zu Jennifer, bevor sie abfuhren. »Hoffentlich ist das kein Problem für Ihren Mann.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ihn Jennifer, »im Grunde ist Joe ein anständiger Kerl. Er ist bloß misstrauisch, wenn er etwas nicht versteht.«
»Daraus kann man ihm kaum einen Vorwurf machen«, sagte Tom, setzte sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Jennifer stand am Straßenrand und winkte ihnen zum Abschied. Julia winkte durchs Rückfenster, wie am Ende eines Familienbesuchs.
Auf der Heimfahrt redeten sie nur wenig. Tom erklärte, sie hätten ihren Flug verpasst und er wollte versuchen, eine spätere Maschine zu bekommen. Auch diesmal erhob Julia keine Einwände.
Clare und Tom hatten das Gefühl, dass irgendetwas hinter ihnen lag, was ihnen ein immenses Gefühl der Erleichterung verschaffte.
Zugleich versuchten sie, nicht darüber nachzudenken, was noch vor ihnen liegen mochte …
21
Brendan Hunt verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. »Ich kann nur auf die Art herangehen, wie ich es gelernt habe«, sagte er. »In den Lehrbüchern werden verschiedene Formen krankhafter Fantasien beschrieben, und dies ist ein klassisches Beispiel dafür.«
»Wie erklären Sie sich dann, was wir in Niagara Falls erlebt haben?«, fragte Tom.
In einer Geste der Kapitulation breitete Hunt die Arme aus. »Ich kann es überhaupt nicht erklären. Aber ich tue es nicht leichtfertig ab. Ich glaube Ihnen, dass sich alles, was Sie mir berichtet haben, tatsächlich so zugetragen hat, aber ich kann es nicht erklären. Wenn ich eine Erklärung haben will, muss ich auf Konzepte wie übersinnliche Wahrnehmung zurückgreifen, oder auf die Fähigkeit des Geistes, Informationen über Kanäle aufzunehmen, die wir nicht verstehen. Vielleicht begreifen wir diese Mechanismen in Zukunft einmal. Vielleicht werden wir alle irgendwann die Gedanken anderer lesen, anstatt miteinander reden zu müssen. Vielleicht ist das, was Julia passiert ist – ein kleiner Blick auf jene Dinge, die unser Verstand eines Tages selbstverständlich beherrschen wird. Ich weiß es nicht.«
Das Gespräch fand an dem Tag statt, nachdem die
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