Mysterium
sollten?
»Nun, der Fall klingt interessant genug, um sich ihn genauer anzusehen«, sagte Lewis schließlich. »Geben Sie mir bis morgen Zeit, um meine Termine zu verlegen. Ich melde mich dann.«
Clare hatte inzwischen ein Gespräch mit Betty Kaye geführt, Julias Lehrerin. Sie und Tom waren zu dem Schluss gelangt, dass Betty genauer über die Situation informiert sein sollte. Sie sei ein wenig betroffen gewesen, berichtete Clare Tom hinterher, habe aber aufmerksam zugehört und schien das Problem zu verstehen. Auch sie habe schon von solchen Geschichten gehört.
»Eigentlich ist es erstaunlich, wie viele Leute schon von so etwas gehört haben, wenn man das Thema anschneidet«, bemerkte Clare. »Aber kaum jemand ist persönlich mit solchen Dingen in Kontakt gekommen. Und wenn doch, haben die Leute es als überaktive kindliche Fantasie wegerklärt.«
Genau das hatten Tom und Clare bis jetzt auch getan, und das wussten beide.
»Jedenfalls«, fuhr Clare fort, »scheint es kein ernstes Problem zu sein. Julia verhält sich in der Schule völlig normal, lernt leicht und kommt gut mit den anderen klar. Aber Betty sagt, sie wird ein Auge auf Julia halten – nur für den Fall.«
Tom nickte. Ein weiterer Punkt auf der Checkliste abgehakt, ein drängendes Problem weniger. Doch er wurde das Gefühl nicht los, dass noch irgendetwas kam. Dieser Gedanke hing unausgesprochen zwischen ihnen. Es war, als wäre jemand, den man liebt, schwer krank, befände sich aber auf dem Weg der Besserung. Man wusste trotzdem – oder gerade deshalb –, dass alles jederzeit von vorn anfangen konnte.
Wie versprochen, rief Dr. Lewis am folgenden Nachmittag wieder an. Er sagte, dass er in ein paar Tagen von Taos, New Mexico, wo er zu Hause war, nach New York fliegen würde.
Höflich lehnte er Toms Angebot ab, bei ihnen zu wohnen oder ihm bei der Suche nach einer Bleibe zu helfen; Lewis zog es stets vor, sich selbst um solche Dinge zu kümmern: Es war einfach ein Teil der Unabhängigkeit, die er sich von den Menschen und Geschehnissen bewahren musste, die er erforschte. Bis zum Abend am Tag seiner Ankunft hörten sie nichts mehr von Lewis. Als er dann anrief, sagte er, er würde gern mit Tom und Clare sprechen, bevor er Julia kennen lernte. Sie sagten ihm, dass Julia bei einer Freundin übernachte, worauf Lewis ein Taxi nahm und nach fünfzehn Minuten bei ihnen erschien.
Auf Lewis’ Internetseite war ein Foto zu sehen, auf dem er ernst, beinahe abweisend wirkte. Als Tom ihn nun leibhaftig sah, stellte er fest, dass Lewis viel umgänglicher und lebhafter war, als er erwartet hatte. Er hatte eine Direktheit, die einem das Gefühl gab, einen Bekannten vor sich zu haben. Nur seine Stimme blieb so trocken wie am Telefon; er war sorgfältig in der Wortwahl und sparsam im Gebrauch.
Tom bot ihm einen Drink an, doch er bat nur um ein Glas Wasser. Während sie Platz nahmen, bemerkte Tom, dass der alte Mann sie beide genau beobachtete, wenn auch sehr diskret. Lewis musste ihr Unbehagen gespürt haben, denn er versicherte ihnen rasch, dass wahrscheinlich nichts von dem, was er ihnen vorschlagen würde, ihrer beider Leben oder das von Julia in Unordnung bringen würde. Er sei ausschließlich gekommen, um Indizien und Beweise zu sammeln, die er später auswerten würde. Vor allem sollten sie nicht von ihm erwarten, dass er ihnen irgendeine Therapie anbieten würde. Lewis wusste, dass Julia bei Dr. Hunt in Behandlung war. Er habe nicht den Wunsch, sich einzumischen, sagte er, und werde Dr. Hunt persönlich aufsuchen, um ihm das deutlich zu machen.
»Wissen Sie, in den Büchern, die ich gelesen habe, bin ich auf etwas gestoßen, das nicht einer gewissen Ironie entbehrt«, sagte Tom. »Im Osten wird die Wiedergeburt so allgemein als Tatsache akzeptiert, dass es wenig Sinn zu haben scheint, überhaupt Beweise für deren Existenz zu sammeln. Im Westen hingegen steht die Reinkarnation so sehr im Widerspruch zu allem, was wir glauben, dass kaum ein Beweis jemals ausreichen wird, uns zu überzeugen.«
Tom versuchte Lewis zu vermitteln, dass er sich bemühte, diese Materie nüchtern zu betrachten, auch wenn sie ihm neu und fremd war. Lewis würdigte seine Bemühungen mit einem dünnen Lächeln.
»Sie haben Recht, da gibt es einen ziemlich großen Unterschied«, pflichtete er ihm bei. »Natürlich tut die westliche Skepsis jeden östlichen Mystizismus ab, indem sie ihn häufig als ein bloßes Mittel sieht, die Menschen ›mit ihrem schrecklichen irdischen
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