Mysterium
Nachforschungen über das Leben von Melanie Hagan anstellen sollte. Als Erstes kamen sie überein, dass Julia in keiner Weise direkt darin verwickelt werden durfte, falls er seine Nachforschungen weiterführte. Die Hauptsache war, dass es Julia dank Dr. Hunts Behandlung besser ging. Ihre Aufgabe als Eltern bestand darin, diesen Prozess zu fördern.
Wie Lewis deutlich gemacht hatte, war das Bemerkenswerteste an den meisten von ihm untersuchten Fällen das Fehlen einer Verbindung zwischen der toten Person und dem Kind, das die Erinnerungen der betreffenden Person geerbt hatte. Warum sollten sie dann überhaupt das Leben von Melanie Hagan erforschen? Lewis drängte nicht darauf, war aber bereit, Tom zu helfen, falls der es wünschte. Was also wollte Tom erreichen? Diese Frage war in vieler Hinsicht schwierig zu beantworten. Am Ende konnte er eigentlich nur sagen, dass er das Gefühl hatte, ihm bliebe keine andere Wahl. Wie er die Situation auch betrachtete, und wie sehr er sich bemühte, das Wort »Besessenheit« mit seinem abschreckenden Beiklang zu vermeiden, so war es doch eine Tatsache, dass das Bewusstsein eines anderen Kindes, das verschwunden und möglicherweise tot war, irgendwie durch den Geist seines eigenen Kindes zurückgekehrt war. Das allein schon ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Es war eine außergewöhnliche Invasion, eine Angst einflößende Berührung durch irgendetwas, das man kaum anders definieren konnte als »übernatürlich«. So sehr Tom sich einredete, kein abergläubischer Mensch zu sein – er konnte nicht einfach so tun, als würde das alles nicht geschehen; ebenso wenig konnte er es als etwas Neutrales behandeln und darauf warten, dass es von selbst verschwand. Er wollte es verstehen .
Vielleicht war das die Bedeutung seines Traums: Das Haus, von dem er fortlief, war das Geheimnis, hinter dem er her war. Im Traum lief er davon, weil er Angst davor hatte, was er entdecken könnte: »Fremde Kräfte«, mit denen menschliche Wesen sich nicht einlassen sollten.
Und die Leiche des Mädchens in dem Haus, die Leiche von Melanie Hagan, wenn sie es denn war – war sie das dunkle Geheimnis im Innern des Rätsels? Und wenn ja, warum? Und auf welche Weise?
Ein Blick auf die Armbanduhr verriet Tom, dass es schon nach fünf war. Es war noch dunkel draußen, doch er wusste, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. In den vergangenen vierzig Minuten hatte er in einem Sessel vor dem Fernseher gesessen und auf den Bildschirm gestarrt, der erst jetzt, als er die Fernbedienung betätigte, flackernd zum Leben erwachte. Er zappte sich durch die Kanäle, doch es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Schließlich gab er es auf und zog sich an.
Es wurde hell, als er das Hotel verließ und hinaus in die kühle Morgenluft trat. Er spazierte eine Stunde lang durch die sonnenlosen, grauen Straßen mit ihrem üppigen Grün und den gestutzten Hecken. Als er losgegangen war, hatte der morgendliche Verkehr gerade eingesetzt; nun war er zu einem ständigen Rauschen angeschwollen.
Tom kehrte bald darauf um und machte sich auf den Rückweg zum Hotel, wo er und Lewis sich für acht Uhr zum Frühstück verabredet hatten. Am Vortag hatte er mit Jennifer Sawyer telefoniert und mit ihr verabredet, um halb zehn im Hotel zu sein, nachdem ihr Mann zur Arbeit gegangen war.
Joe Sawyers ablehnende Haltung zu diesen Nachforschungen beunruhigte ihn. Es war nicht nur, dass Sawyer eine Bedrohung darstellte, auch wenn dies zweifellos der Fall war. Wichtiger aber war noch, dass Tom verstehen wollte, warum der Mann sich so ablehnend verhielt. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Sawyer etwas wusste, was die anderen nicht wussten, und dass er darauf bedacht war, dass dieses Wissen nicht entdeckt wurde. Doch Tom war sich bewusst, dass er keinen triftigen Grund hatte, so zu denken – es war nur sein Instinkt. Im Großen und Ganzen hatte er stets die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die übermäßig wütend waren, meist etwas zu verbergen hatten, und sei es ihre eigene Angst.
Tom hatte einen Verdacht, was Sawyer verbarg. Das Problem war nur, Beweise zu finden.
24
Oliver Lewis’ Hotelzimmer hatte eine Sitzecke, die vom Schlafbereich abgetrennt war. Dort stellte er Jennifer Sawyer nun seine detaillierten Fragen und nahm ihre Antworten auf Band auf. Er wollte von ihr wissen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er zur Erinnerung an die Sitzung ein Foto machte. Sie hatte keine Einwände, und so holte
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