Mystery Thriller Band 224
eingestanden, wie sehr sie ihren Vater und irgendwie auch Deadman’s Landing tatsächlich vermisst hatte.
Seit ihrem Weggang vor fünf Jahren war sie nie wieder hier gewesen. Zwar hatte sie vor allem anfangs oft zu Hause angerufen und natürlich auch Karten und Briefe geschrieben, aber den Weg hierhergefunden hatte sie nie, nicht einmal nach der Sache mit Michael. Mehr noch: Ihr Vater wusste nicht einmal etwas davon. Er wusste gar nichts. Weder, dass sie sich in Michael verliebt hatte, noch, dass er gerade einmal ein halbes Jahr nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht gestorben war.
Bei einem tragischen Unfall, nach einem hässlichen Streit und ohne dass sie sich zuvor versöhnt hatten. Von einem Bus beim Überqueren der Straße erfasst und überfahren.
Melissa hatte mit niemandem darüber gesprochen, außer mit Mona, die sie durch einen dummen Zufall in der Cafeteria der Akademie kennengelernt und die innerhalb kürzester Zeit zu ihrer besten Freundin geworden war. Und als sie jetzt, keine zwanzig Minuten nach ihrer Heimkehr, ihrem Vater bei einer Tasse dampfenden Tee in der Küche gegenübersaß, fragte sie sich, wie sie ihm dieses schlimme Ereignis hatte vorenthalten können. War die Kluft zwischen ihnen so groß geworden?
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hatte ihren Dad immer lieb gehabt, keine Frage. Doch sonderlich eng war ihre Beziehung zueinander nie gewesen. Richtig ausgetauscht hatten sie sich nie. Nicht einmal, als Melissas Mutter sich kurz nach dem siebzehnten Geburtstag ihrer Tochter von ihrer Familie abwandte und mit einem Mann, den sie kaum kannte, nach Rio de Janeiro ging. Dass sie dort ein Leben nachholen wollte, auf das sie offenbar die ganzen Jahre über für ihre Familie verzichtet hatte – all das war nie Thema zwischen Melissa und ihrem Dad gewesen.
Melissa seufzte. Sicher, ihr Vater hatte es bestimmt immer gut gemeint. Doch leider war er wohl der Überzeugung gewesen, dass er am besten daran tat, wenn er das Thema seiner Tochter gegenüber totschwieg. Nie hatte er über ihre Mutter und das, was sie getan hatte, gesprochen. Stattdessen stürzte er sich in seine Arbeit und war mehr für seine Patienten da als für seine Tochter.
Für Melissa war das damals sehr schwer gewesen. Vor allem, da sie ihrem Vater jeden Tag aufs Neue ansah, wie tief getroffen und enttäuscht er vom Verhalten seiner Frau war. Doch für sie war das alles eine ebenso große Belastung, und daher beschloss sie, als sie volljährig wurde, von zu Hause fortzugehen und in Boston ihr Glück zu suchen.
Ihre Bewerbung für die Polizeiakademie hatte sie schon während ihres letzten Schuljahres an der Dedmon’s High geschrieben. Und als die Zusage kam, stand für sie fest, dass sie ihrem Leben in Dedmon’s Landing den Rücken kehren würde.
Zunächst lief auch alles ganz gut. Die Ausbildung an der Akademie war hart, aber sie machte auch Spaß, und man lernte viele nette Leute kennen. Überhaupt war die Kameradschaft der Kadetten untereinander toll. Sie hielten es wie die drei Musketiere: Alle für einen, und einer für alle. Melissa lebte ihren ganz persönlichen Traum, bis … Ja, bis Michael diesen schlimmen Unfall hatte, und sich schlagartig alles änderte.
Mona war in der Zeit ihre wichtigste Stütze gewesen. Ohne ihre Freundin wäre Melissa wohl nie mehr auf die Beine gekommen. Doch Mona war immer für sie da gewesen und hatte ihr zugehört, sie aufgebaut. Ihr hatte Melissa es zu verdanken, dass sie heute zumindest tagsüber wieder relativ normal sein konnte. Nur die Nächte waren noch immer grausam. Da lag Melissa meist wach in ihrem Bett, wälzte sich hin und her und grübelte über das Geschehene nach. Und wenn sie doch einmal einschlief, dann wurde sie von schrecklichen Albträumen geplagt, die sie manchmal schreiend aufschrecken ließen. Da zudem alles in Boston sie an Michael erinnerte, hatte sie sich schließlich entschieden, zurück nach Deadman’s Landing zu gehen. Vielleicht half ihr ein Tapetenwechsel dabei, besser über ihren Verlust hinwegzukommen.
„Und, wie geht es dir nach deiner Pensionierung?“, erkundigte sie sich jetzt bei ihrem Vater. „Muss toll sein, den ganzen Tag nichts tun zu müssen.“
Doch ihr Vater winkte ab. „Was soll ich sagen? Die Arbeit fehlt mir. Die Patienten fehlen mir und …“ Er hielt kurz inne. „Deine Mutter fehlt mir.“
Überrascht und beinahe ein bisschen erschrocken blickte Melissa auf. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass ihr Vater das Thema auf
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