Mystery Thriller Band 224
seine Noch-Ehefrau bringen würde.
„Ach, Dad“, sagte sie und ergriff über den Küchentisch hinweg die Hand ihres Vaters, um sie leicht zu drücken. „Mir fehlt Mom ja auch. Meldet sie sich bei dir denn gar nicht mehr?“
Ihr Vater schüttelte nur den Kopf, und Melissa seufzte. Sie selbst hörte schon regelmäßig etwas von ihrer Mutter, allerdings nur in Form von meist sehr kurzen Anrufen oder knappen E-Mails. Von einer vernünftigen Mutter-Tochter-Beziehung konnte also längst keine Rede mehr sein, und Melissa war traurig darüber. Nach der Sache mit Michael hätte sie ihre Mutter gebraucht. Sehr sogar. Aber Shoana Carlisle hatte sich für ein anderes Leben entschieden. Zwar konnte Melissa ihre Beweggründe nicht wirklich nachvollziehen, aber ändern konnte sie auch nichts.
„Und du?“, fragte ihr Vater. „Wie war es bei dir in Boston? Hast du niemanden kennengelernt?“
„Du meinst einen Jungen?“ Wieder war Melissa überrascht. Dass ihr Vater sich so für sie interessierte, war sie nicht gerade gewohnt. Sie schüttelte den Kopf und schluckte mühsam, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben, der sich bei dem Gedanken an Michael gebildet hatte. „Nein“, sagte sie knapp.
„Hat es dir denn in Boston nicht mehr gefallen? Deine Heimkehr kommt doch recht … überraschend.“
Melissa wollte jetzt nicht darüber reden. „Hör zu“, sagte sie und stand auf. „Ich bin echt müde von der langen Fahrt. Wir sprechen morgen weiter, einverstanden?“
Ihr Vater nickte. „Warte, ich helfe dir noch rasch mit deinem Gepäck. Und wenn es dir recht ist, würde ich dann gern noch auf ein Bier zu Hank Lewing rübergehen. Er hat heute Geburtstag, und …“
„Kein Problem, Dad, und um mein Gepäck kann ich mich auch selbst kümmern. Allzu viel ist es ja ohnehin nicht. Also geh nur.“
Ihr Vater zögerte noch kurz, so als sei er besorgt, sie allein zu lassen, was Melissa schon irgendwie rührte, nickte dann aber und verließ die Küche. Kurz darauf war zu hören, wie die Haustür ins Schloss fiel.
Melissa stand auf, räumte die zwei leeren Kaffeetassen in die Spülmaschine und machte sich dann auf den Weg nach oben zu ihrem Zimmer. Ihr Gepäck würde sie später aus dem Wagen holen. Viel hatte sie tatsächlich nicht dabei: In Boston hatte sie schließlich auch nicht viel Platz gehabt: Ein winziges möbliertes Zimmer in einer kleinen Wohnung, die sie sich mit Mona geteilt hatte. Da hatten gerade mal ihre Klamotten, ein paar Bücher, ihr PC und einige Bilder Platz gefunden. Mehr Anschaffungen hätte sie aber ohnehin nicht tätigen können, weil ihr dafür eben nicht nur der Stauraum, sondern auch das nötige Kleingeld fehlte. Die Bezahlung während der Ausbildung war nämlich alles andere als üppig, und auch Mona verdiente bei ihrem Aushilfsjob in der Kantine der Akademie, wie sie es so treffend ausdrückte „zum Sterben zu viel, und zum Leben zu wenig“. Und weil Wohnraum in der Großstadt ebenso knapp wie teuer war, hatten sie eben gemeinsam in einer WG gelebt. Vermutlich würde sich ihre Freundin nach ihrem Auszug schon bald eine neue Mitbewohnerin suchen, denn allein konnte sie sich die Wohnung auf Dauer mit Sicherheit nicht leisten.
Melissa erreichte das obere Stockwerk, und als sie ihr Zimmer betrat, verspürte sie nicht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben.
Dieses Mal aber war es ungleich stärker als zuvor.
In ihrem Zimmer hatte sich wirklich nichts verändert. Alles war noch ganz genau so wie an dem Tag vor fünf Jahren, als sie Deadman’s Landing verlassen hatte: Das Poster von Justin Timberlake, für den sie damals geschwärmt hatte, hing noch über ihrem Bett. In ihrem Bücherregal stand die Gesamtausgabe von Herr der Ringe neben ein paar anderen Fantasywälzern, darunter ihre gesamte DVD-Sammlung, die vornehmlich aus Romantikkomödien bestand.
Sie trat an ihren Schreibtisch, öffnete die breite Schublade unter der Tischplatte und erblickte neben einigen Blatt Papier, einen Zeichenblock und anderem Krimskrams ein reichlich zerfleddertes Büchlein. Vorsichtig nahm Melissa es zur Hand. Der Umschlag der Pappe war aus recht dickem, ehemals weißem Kartonpapier, das inzwischen aber ziemlich vergilbt war. Auf der Vorderseite stand in großen, selbst klebenden Druckbuchstaben MEINE SCHULDFREUNDE. Auf den Innenseiten hatten ihre damaligen Klassenkameraden ihre Namen, Hobbys, Lieblingsbands und Ähnliches eintragen können. Nichts Besonderes eigentlich,
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