Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)
Mensch sein. Ein nettes Mädchen, das tut, was man ihm sagt. Ist das nicht wunderbar?«
Ich weigere mich, ihn anzusehen. Stattdessen starre ich auf den gemalten Teich vor mir, auf die Seerosen, die von kleinen Wellen bewegt werden. Die Farben wechseln von Violett über Rosa zu Dunkelrot, ehe wieder Violett kommt. Thomas redet. Blende ihn aus , sage ich mir. Blende ihn einfach aus.
Vielleicht bleiben mir nur noch wenige Augenblicke mit meinem wahren Ich als Aria Rose. Ich habe so lange um die Erinnerungen gekämpft, die mir geraubt wurden. Dass sie mir noch einmal genommen werden, ist ein himmelschreiendes Unrecht.
Ein Leben ohne Hunter! Diesmal ist kein Mann wie Patrick Benedict hier, der die Erinnerungen an meinen Liebsten speichert und in einem silbernen Herzmedaillon aufbewahrt.
Keine Erinnerungen mehr an Kyle oder meine Eltern. An meine Freundinnen Kiki und Bennie. Oder an Shannon. Namen und Gesichter, die mir für immer verloren sein werden, ziehen durch mein Bewusstsein und sagen mir Lebwohl. Ich denke an Markus, der einen ebenso grausamen wie unsinnigen Tod sterben musste wie der Gondoliere, den mein Vater eiskalt hinrichtete, weil er mich heimlich zu Thomas gebracht hatte.
Werde ich meinen Vater vermissen? Meine Mutter? Kyle?
Die Antwort lautet schlicht: nein. Nicht nach dem, was sie mir angetan haben. Aber sie sind trotzdem meine Familie. Früher habe ich sie geliebt. Vielleicht liebe ich sie immer noch ein bisschen.
Warum hat Hunter diese Videos gemacht, ohne es mir zu sagen? Warum hat er mich nicht gebeten, eine öffentliche Stellungnahme abzugeben? Sollte ich deshalb nicht in die Stadt zurückkommen? Damit ich nicht meine eigene Meinung sagen konnte?
Eine Welle der Übelkeit überkommt mich und ich muss würgen. Doch seit dem Abendbrot auf der Farm habe ich nichts mehr gegessen, mein Magen ist leer. Mein Hals tut weh und ich weine, obwohl ich doch stark sein will.
Vielleicht hat Thomas Recht. Vielleicht war ich naiv, weil ich glaubte, durch Gerechtigkeit ließe sich ganz einfach wieder Ordnung in der Stadt herstellen. Dank meiner Aussagen gegenüber Hunter habe ich die Situation womöglich noch verschärft. Und am Ende ist es noch ein Segen, von all dem nichts mehr zu wissen.
Meine Lider werden bleischwer, und ich muss gegen den Drang kämpfen, die Augen zu schließen.
»Sobald du wieder ein unbeschriebenes Blatt bist, werden wir dich als unsere Wortführerin aufbauen«, sagt Thomas. »Warum solltest du dich nicht nützlich machen? Und wer weiß, vielleicht haben wir auch für deinen attraktiven Körper Verwendung. Wäre doch eine wahre Schande, wenn niemand was davon hätte, oder?«
Ich erschaudere. Von wegen selige Unwissenheit. Das ist das Ende. Meine Augen suchen wieder das Gemälde mit dem Nachtcafé.
»Mr Foster«, sagt eine der Mystikerinnen. »Wir wären dann so weit.«
Zumindest wird das Letzte, das ich als wahre Aria Rose sehe, etwas Schönes sein: Die gelbe Markise über den Café-Tischchen wird nun orangefarben und schließlich dunkelbraun. Ich sehe Gestalten, die sich bewegen; ich sehe Leute, die Kaffee trinken. In der Ferne flammt ein roter Punkt auf – vielleicht Licht aus einem Fenster – und dehnt sich aus. Erst ist er nur so groß wie ein Daumennagel, dann hat er Bonbongröße. Der Kreis wird zu einem Oval, bekommt Kopf und Glieder. Wird zu einer rot glühenden menschlichen Gestalt. Sie jagt aus dem Hintergrund auf mich zu und lässt dabei gaffende Passanten hinter sich. Sie wächst und verändert sich. Aus Rot wird Silberweiß.
Aber das ist ja gar kein Mensch mehr! Die Form nimmt jetzt schon fast die gesamte Bildfläche ein und droht den Rahmen zu sprengen. Ein Motorrad! Ich erkenne es sofort, auch wenn es aus Tausenden von gemalten Punkten besteht. Es ist Turks Bike!
Mein Körper wehrt sich offensichtlich gegen die Injektionen. Ich fühle mich vollkommen lebendig . Ich werde all das überstehen und mich am Ende daran erinnern.
Ein Höllenlärm bricht los, als das Motorrad aus dem Gemälde ins Zimmer fährt. Im Sattel sitzt tatsächlich Hunters bester Freund und bremst auf dem teuren Orientteppich. Turk trägt wie immer seinen schwarzen Iro, sein Kopf ist auf beiden Seiten kahl geschoren, die Platinspitzen sind steil in die Höhe gerichtet und strahlen. Das Drachen-Tattoo auf seinem rechten Arm pulsiert und aus dem Maul der Echse scheint tatsächlich Rauch aufzusteigen.
Turk grinst mich breit an, seine Augen leuchten.
Thomas ist wie vom Donner gerührt. »Was
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