Mystic City 2. Tage des Verrats (German Edition)
schlafen.«
Ich winke ab. »Darum geht’s nicht. Ich glaube …«
»Nächster!«, ruft eine der Schwestern.
Turk reißt entsetzt die Augen auf. »Aria Rose, du willst dir doch nicht etwa die Haare abrasieren lassen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Und wenn schon, was geht es dich an?«
Turk denkt kurz nach. »Hunter wird ausrasten.«
»Ja, kann sein, aber vielleicht sind meine Haare auch längst nachgewachsen, bis ich ihn wiedersehe.« Ich bin inzwischen bis ganz nach vorne aufgerückt.
Turk zieht eine Augenbraue hoch. »Oha. Dicke Luft?«
»Nächster!«, ruft die Schwester, womit mir eine Antwort auf Turks Frage erspart bleibt. Zumindest vorerst. Ich setze mich auf den Hocker und spüre das Gewicht meiner Haare auf den Schultern.
Für einen Sekundenbruchteil frage ich mich, was Hunter wohl dazu sagen wird, wenn er mich ohne Haare sieht, und wie sich der Haarschneider auf meiner Kopfhaut anfühlen wird. Dann blinzele ich und sage: »Alles ab!«
Die Schwester schluckt. »Aria Rose? Ich glaube, ich …«
Ich sehe sie eindringlich an. »Bitte.«
»Na gut, wie du willst …«, erwidert sie leise. Dann macht sie den Haarschneider sauber und murmelt: »Wenn ich das meinen Freundinnen erzähle …«
Ich balle die Hände zu Fäusten und bin bereit. Bereit für die neue Aria Rose.
Plötzlich herrscht in der Schlange neben mir Tumult. »He, du!«, beschwert sich ein älterer Mann, und im nächsten Moment sehe ich Turk, der sich vorgedrängelt hat und nun auf dem Hocker neben mir sitzt.
»Was hast du vor?«, frage ich mit entsetztem Blick auf seinen prächtigen Iro. »Drehst du jetzt völlig durch?«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich so eine Aktion alleine durchziehen lasse?« Er hält mir die Hand hin und ich nehme sie. »Oh Gott«, sagt er laut. »Was hab ich mir dabei bloß gedacht?«
»Augen zu und durch«, sage ich. »Sind doch nur Haare. Die wachsen wieder.«
»Ja, ja, hast ja Recht«, brummt Turk und wendet sich der Schwester zu. »Na, dann los.«
Turk ist kaum wiederzuerkennen. Ohne seinen Iro sieht er gar nicht mehr wie der knallharte Typ aus, vor dem man lieber erst mal in Deckung geht. Er sieht jünger aus, niedlicher. Sein Äußeres hat nichts Einschüchterndes mehr – von den Piercings und den bunten Tattoos mal abgesehen. Er sieht einfach nur verdammt gut aus.
»Fühlt sich komisch an.« Ich streiche mir über den kahlen Schädel. Meine Kopfhaut kribbelt. Ohne Haar fühlt sich mein Kopf plötzlich so leicht an.
»Vergiss niemals, was ich gerade für dich getan habe«, sagt Turk niedergeschlagen. »Niemals, hörst du?«
Jemand reicht mir einen kleinen Handspiegel mit Holzgriff.
Staunend betrachte ich das Gesicht, das zweifellos meines ist und mir dennoch fremd erscheint. Von den braunen Locken sind nur noch Stoppeln übrig, die meine ovale Kopfform betonen. Die Ohren wirken größer, mein Blick intensiver und die dunkelbraunen Augenbrauen verleihen mir etwas Strenges. Insgesamt wirkt mein Gesicht viel markanter. Verschwunden ist die Tochter reicher Eltern. An ihre Stelle ist ein Mädchen getreten, dem man ansieht, dass es einiges durchgemacht hat.
Als ich mich von meinem Hocker erhebe, beginnen die Wartenden in der Schlange zu applaudieren. Mir steigt vor Verlegenheit die Röte in die Wangen.
»Aria! Aria!« , skandieren sie – Männer, Frauen, Kinder, Mystiker und Nichtmystiker. Sogar einige der Schwestern klatschen und lachen. Mit einem Mal fühlt es sich an, als würde ich dazugehören. Als würden sie mich als eine der ihren akzeptieren.
In diesem Augenblick erscheint auf dem riesigen Bildschirm im Hintergrund ein neues Bild. Kyle. Mein Bruder.
Seit der Nacht, in der mein Vater das Rebellenversteck überfallen hat, habe ich Kyle nicht mehr gesehen. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und eine Krawatte, das Haar ist ordentlich gescheitelt. Er steht hinter einem Pult und verliest eine Presseerklärung. Dabei wirkt er viel älter als einundzwanzig. Meine Eltern stehen hinter ihm und sehen sehr stolz aus. Der Schock, ihn zu sehen, trifft mich wie ein Schlag. Wut und Angst mischen sich mit Gefühlen aus meiner Kindheit, die ich längst verschüttet glaubte. Vielleicht – ja, vielleicht – ist auch Liebe dabei.
»Wir werden nicht ruhen, ehe alle Mystiker gefunden und neutralisiert worden sind«, verkündet Kyle. Um mich herum zischen und buhen die Leute und brüllen Flüche in Richtung Bildschirm. Mein Bruder blickt von seinen Notizen auf und schaut in die Kamera.
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