Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
unaufhaltsam dem Prächtigen Block. Dabei machen wir bei weiteren Gondolieri halt. Ich bin schweißgebadet. Meine Schuhe drücken. Ich will nur noch nach Hause.
Am Ende stoßen wir auf einen einsamen Gondoliere, der am Kanalrand wartet. Mein Vater baut sich, flankiert von Klartino und Stiggson, vor ihm auf. »War er es?«
Ich betrachte den Mann. Sein Haar ist schmutzig, seine Wangen sind von Pockennarben übersät. Natürlich ist das nicht der rothaarige Junge, in dessen Gondel ich gefahren bin, aber er kann genauso gut wie jeder andere den Anschiss meines Vaters entgegennehmen. Einem Gondoliere sind die Gesetze der Horste egal, und mein Vater wird nur noch wütender, je länger wir suchen.
»Ja«, sage ich erschöpft.
Der Gondoliere wirkt verwirrt. »Sir, was wünschen Sie? Ich habe kein Geld.«
Mein Vater lacht, auf einmal scheint er amüsiert. Klartino und Stiggson kichern drohend. Dad sieht mich an. »Pass gut auf, was ich dir jetzt sage, Aria. Ich weiß nicht, welches Spiel du heute Nacht gespielt hast, aber jetzt ist der Spaß vorbei. Du wirst deine Hochzeit nicht torpedieren. Hast du mich verstanden?«
Ein Knirschen ist in seiner Stimme, sein Gesicht wutverzerrt.
»Ja«, bringe ich hervor. »Ich habe verstanden. Es tut mir leid.«
Meine Reue hat offenbar eine entspannende Wirkung auf ihn. »Braves Mädchen«, sagt er. »Das wäre damit erledigt.«
Ich seufze vor Erleichterung.
»Ach, und Aria?«, fügt mein Vater hinzu. Er hebt die dunklen, kräftigen Augenbrauen.
»Ja?«
Er zieht eine silberglänzende Pistole aus seinem Hosenbund und schießt dem Gondoliere in den Kopf. Der Knall ist ohrenbetäubend. Ich stoße einen scharfen Schrei aus.
Der Mann sackt in sich zusammen wie eine Marionette und taumelt nach hinten, fällt ins Wasser und treibt davon. Ohne Aufforderung nehmen die Bodyguards ein Ruder und ziehen den Toten damit ans Ufer. Sie werden die Leiche später entsorgen.
Mein Vater reicht die Waffe seinen Männern, wischt sich die Hände ab und sagt in aller Seelenruhe zu mir: »Schleich dich nie wieder aus unserer Wohnung.«
6
Nachdem mir sechs Ampullen Blut abgenommen wurden, geht es ins nächste Behandlungszimmer.
»Kommen Sie bitte mit«, sagt eine der Schwestern. Sie hat eine Ballonfigur und trägt einen engen weißen Kittel. Das flachsblonde Haar hat sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden.
Ich folge ihr in einen großen Raum, in dem sich eine riesige, rechteckige Maschine befindet. In dieser weißen, sterilen Umgebung komme ich mir ganz schmutzig vor. Ich trage ein blaugrünes Krankenhaushemd, das locker am Rücken zugebunden ist, und gehe barfuß.
Gestern Nacht hat mein Vater einen Menschen getötet und ich musste dabei zusehen. Wir haben bis jetzt noch kein Wort darüber gesprochen. Meine Mutter wollte nicht darüber reden und mein Vater ging sofort zu Bett, als wir heimkamen. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war er schon weg.
»Der Doktor ist in einer Minute bei Ihnen«, sagt die Schwester, schließt die Tür hinter sich und lässt mich allein. Allein mit meinen Gedanken.
Ich habe immer gewusst, dass mein Vater ein gefährlicher Mann ist. Wer zum Oberhaupt eines Clans aufsteigt und halb Manhattan kontrolliert, macht sich notwendigerweise die Hände schmutzig. Doch bis gestern hat sich mein Vater große Mühe gegeben, seine Taten vor mir zu verbergen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich den Gondoliere nach hinten taumeln. Der arme Mann! Er hat niemandem etwas getan, trotzdem ist er jetzt tot. Nur weil ich zu müde war, um weiterzugehen, und ihn deshalb als Sündenbock benutzt habe.
Ich kann sein Gesicht nicht vergessen. Ich bin schuld an seinem Tod. Mein Vater ist jederzeit bereit zu morden und ich will nie mehr der Grund dafür sein. Von nun an werde ich um jeden Preis verhindern, dass er anderen Leid zufügt, selbst wenn ich mich dafür seinem Willen unterwerfen muss.
»Schön, Sie zu sehen.« Dr. May ist hereingekommen und geht an mir vorbei, die Schwester folgt ihm wie ein Schoßhündchen. Meine Mutter beobachtet die Szene nervös von der Tür aus.
Dr. May holt ein Paar Einmalhandschuhe aus einer Schublade und zieht eine Brille mit Drahtgestell aus der Tasche seines Arztkittels. Brillen sieht man heutzutage selten, da sich die meisten Leute die Augen lasern lassen. Aber Dr. May ist eben altmodisch und, na ja, eben alt. Er ist so weiß wie das Untersuchungszimmer: das dünne Haar, der Schnurrbart, die Haut, die Kleidung – alles weiß.
»Wie
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