Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
Beziehung erinnere, kann ich doch lernen, ihn zu lieben: um meiner Eltern willen, um Thomas’ willen und um meine Loyalität gegenüber den Horsten zu beweisen.
In meiner Erinnerung suche ich ein Bild von Thomas. Seine Hand fühlt sich wunderbar heiß auf meiner Haut an und meine auf seiner. Seine Brust hebt und senkt sich unter meiner Handfläche.
Schließlich beginnt er zu sprechen. »Das erste Mal haben wir uns nachts in einer Gondel geküsst. Nein, es war noch nicht ganz dunkel. Es war in der Dämmerung. Du hast ein … äh … kurzes rotes Kleid getragen, das deine Beine hübsch zur Geltung brachte. Wir haben uns wie gewohnt in der Nähe des Prächtigen Blocks getroffen, dann haben wir mit der Gondel eine Rundfahrt um die Stadt herum gemacht. Ich bin als Erster eingestiegen und habe dir ins Boot geholfen, aber es hat so stark geschaukelt, dass du beinahe ins Wasser gefallen wärst. Ich habe dich festgehalten und du hast dich … an mich geschmiegt. Da habe ich mich vorgebeugt und dich geküsst. Es war wie im Film – ganz langsam erst, aber unvergesslich. Wir hatten ein bisschen Angst, und der Gondoliere hat uns seltsam gemustert, aber wir haben ihn angelacht. Uns war das egal. Wir waren einfach glücklich. Ich wollte gar nicht mehr aufhören, dich zu küssen. Nie mehr.«
Ich will ihm gerade sagen, dass ich von all dem nichts mehr weiß, als eine Erinnerung in meinem Kopf aufleuchtet. Ich schweige. Seine Geschichte bringt Farbe in das Schwarz meines Gedächtnisses, bis der Augenblick zum Leben erwacht: Ich warte unter einem Gebäude mit kaputter Markise nah am Block. Ich erinnere mich, wie ich jemandem entgegenlaufe – Thomas? – und wie ich in die Gondel stolpere, genau, wie er es gerade dargestellt hat.
Die Bilder tauchen wie aus dem Nichts auf, aber sie sind so lebendig, als würde ich einen Film sehen. Ich bin überwältigt. Dann wird meine Erinnerung plötzlich verschwommen. Thomas’ Gesichtszüge lösen sich auf und setzen sich neu zusammen, die Nase wird länger, die Augen werden schmaler und rücken näher aneinander, die Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, vor dem man sich fürchten muss. Als er sich bewegt, gibt es eine Verzögerung, dann verwandelt sich auch der Rest seines Körpers.
Ich schüttele heftig den Kopf und die Vision verpufft.
Grau. Weiß. In meinen Gedanken verschwimmt alles und dann ist da nur noch Leere.
Ich öffne die Augen und bin wieder in Thomas’ Zimmer, sitze auf seinem Bett. Wir berühren uns immer noch, doch jetzt fühlt sich seine Hand schwer an. Meine Hand ist schweißnass und ich ziehe sie von seiner Brust zurück. »Verrückt.«
»Was ist los?«, fragt er besorgt.
»Irgendetwas ist gerade mit mir passiert. Irgendetwas …«, antworte ich.
Ein Sirren unterbricht mich. In der Tür stehen meine Eltern mit entsetzten Mienen. Mein Vater trägt einen dunklen Anzug, sein Hemdkragen ist geöffnet, der Knoten seiner blau-gelben Krawatte gelockert. Auf dem Boden liegen die Scherben eines Wasserglases. Ich habe es wohl umgestoßen.
»Aria, du kommst mit. Sofort«, knurrt mein Vater.
Thomas setzt sich auf und schiebt sich von mir weg.
»Du hast meine Eltern angerufen?«, frage ich.
Blitzschnell ist mein Vater am Bett und packt mich. Seine Finger drücken sich schmerzhaft in meine Schulter. Ich jaule, unterdrücke einen Schrei. Es hat keinen Zweck, sich zu wehren – sie haben mich erwischt. Ich durchbohre Thomas mit Blicken. Ich fühle mich unendlich hintergangen. Aber da zerrt mich schon mein Vater den Flur entlang und aus der Wohnung.
Ich stelle keine Fragen, als wir mit dem AP in die Tiefe fahren, statt die Leichtbahn zwischen den Horsten zu nehmen. Stiggson und Klartino, zwei Männer meines Vaters, kleben direkt hinter mir; ich folge meinen Eltern durch eine winzige, vermüllte Straße zu einem breiten Kanal – Lexington Avenue. Hier warten Gondolieri bei den Anlegern auf Fahrgäste. Neugierige Blicke treffen uns, man scheint sich hier über unsere Anwesenheit zu wundern.
Endlich spricht mein Vater wieder mit mir. »Bist du mit einem von denen gefahren?«
Ich sehe mir die Männer an. »Nein.« Seine Frage kann nichts Gutes bedeuten.
Wir gehen am Kanal entlang und erreichen die nächste Gruppe Gondolieri. Keiner von ihnen kommt mir bekannt vor.
»Johnny, was soll das hier?«, will meine Mutter wissen.
»Sei still.« Er dreht sich zu mir um. »Einer von diesen Männern?«
Ich schüttele den Kopf.
Wir überqueren einige Straßen und nähern uns
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