Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
Nähe von Lyricas Wohnung steigen wir aus und erreichen über eine Reihe von Brücken unser Ziel.
Der Block nimmt mich mit seiner Schönheit gefangen: Überall sind Männer und Frauen unterwegs mit Glasröhrchen, in denen mystisches Licht schimmert.
Ein Mann hinter uns hat welche übrig und Davida lässt sich zwei von ihm geben. »Hier.« Die Phiole wirft ein sanftes Licht auf ihr Gesicht. Tausende von Menschen haben sich auf der Großen Wiese versammelt und all die kleinen Lichter erhellen zusammen den Nachthimmel, spiegeln sich auf dem Metall der Stege und dem Ölfilm auf dem Wasser.
Schnell entsteht ein Gedränge, es geht nur langsam voran. Endlich erreichen wir die freie Fläche, wo vor Kurzem der Jahrmarkt stattgefunden hat. Hier wurde inzwischen eine Bühne errichtet.
»Heute Nacht sind nicht nur Mystiker hier.« Davida führt mich zu einem Platz mit guter Sicht auf die Bühne. »Die meisten Teilnehmer sind arme Leute, die hier unten in der Tiefe leben. Und das ist gut so. Schließlich brauchen wir jede Stimme.«
Vergebens halte ich nach Hunter und Turk Ausschau. Ob Davidas Familie wohl auch hier ist? Ich schlinge meinen Mantel enger um mich, die Kapuze schiebe ich nur ein klein wenig zurück, damit ich besser sehen kann.
Violet Brooks mikrofonverstärkte Stimme hallt durch die Nacht. »Es ist Zeit, dass alle Menschen frei leben können«, sagt sie, »und alle dieselben Rechte haben.«
Die Menge jubelt.
»Niemand darf unsere Lebenskraft abschöpfen. Vielmehr sollten wir unsere mystische Macht behalten und dafür geachtet werden. Schließlich waren wir Mystiker maßgeblich an der Entstehung New Yorks und anderer großer Städte wie Los Angeles, Chicago und Austin beteiligt. Mystische Energie allein hat es ermöglicht, dass trotz der Folgen eines steigenden Meeresspiegels der Wohlstand großer Teile der Gesellschaft erhalten werden konnte. Wir haben die Horste gebaut. Wir haben jenen Stahl produziert, der sie vor dem Einsturz bewahrt. Wir haben Kranke geheilt. Und was war unser Lohn? Zwangsabschöpfungen, deren Zahl sich noch erhöhen wird, wenn Garland Foster die Wahl gewinnt. Für die Bewohner der Horste sind wir nicht mehr als Batterien. Eine billige Energiequelle, aus der sie den Strom für ihre Stadt beziehen. Aber wir sind keine Batterien! Wir sind Menschen!«
Davida hebt ihr Licht in die Höhe, wie auch viele andere in der Menge. »Sie will registrierte Mystiker dazu ermuntern, zur Wahl zu gehen«, erklärt Davida. »Wenn man registriert ist, hat man das Recht dazu. Falls sie die Armen für sich gewinnt und die Mystiker zur Teilnahme an der Wahl bewegt, bekommt sie mehr Stimmen, als es Wähler in den Horsten gibt. Aber bislang haben viele Mystiker noch nie gewählt, weil sie doch nur zwischen … äh …«
Ich zucke mit den Schultern. »Schon verstanden.«
Violet fährt fort. »Diesmal habt ihr die Wahl: Wollt ihr eure Stimme diesen Zecken schenken, die unsere Stadt aussaugen? Oder einer Mystikerin, die euer Leid versteht?«
Sie reckt die Arme nach oben und die Zuhörer applaudieren. In ihrem schlichten schwarzen Hosenanzug und der weißen Bluse sieht sie von hier winzig aus. Wie kann sie hoffen, die Roses und die Fosters zu schlagen? Doch der tosende Beifall zeigt ihre Macht: Als einzelner Mensch ist sie klein und schwach, aber hinter ihr stehen Tausende.
»Wenn ihr mich wählt, wird es mit den Abschöpfungen ein Ende haben! Wir haben bereits genug Energie geliefert, um diese Stadt hundert Jahre lang am Laufen zu halten. Mittlerweile haben die Abschöpfungen deshalb nur noch ein Ziel: uns schwach zu halten. Manhattan, die Zeit ist reif für den Wandel!
Wenn ihr mich wählt«, fährt sie fort, »wird es keine Trennung mehr zwischen Mystikern und Nichtmystikern geben. Die Reichen werden nicht mehr hoch oben leben und die Armen tief unten. Wir werden eine Stadt sein – geeint durch unsere Liebe zueinander und zu New York.«
Die Zuhörer johlen und jubeln. Ein paar Jungen, etwa in meinem Alter, schwenken ihre Lichtphiolen. Neben mir umarmen sich eine Frau und ein Mann.
Hier, in diesem Augenblick, unter all den fremden Menschen, wünsche ich mir auf einmal, dass Violet die Wahl gegen Garland gewinnt. Ich jubele mit den anderen.
»Eins muss man ihr lassen: Mit Worten weiß sie umzugehen«, sagt Davida.
»Absolut.« Ich rücke näher an sie heran, unsere Arme berühren sich. »Schön, dass du mitgekommen bist. Die Rede hat für mich eine ganz besondere Bedeutung bekommen, weil ich sie mit dir
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