Mystic River
gebracht. Aber er hatte damals nicht wahrgenommen, dass er sie hörte: Auf dem Boden hatte Müll gelegen. Einwickelpapier von Hamburgern, zerknüllte Chipstüten, Bier- und Mineralwasserdosen, Kaffeebecher aus Styropor und ein schmutziges grünes T-Shirt. Erst als Sean aufwachte und über den Traum nachdachte, wurde ihm klar, dass der Boden hinter den Vordersitzen in seinem Traum genau derselbe gewesen war wie in Wirklichkeit und dass er den Müll bis zu diesem Moment vergessen hatte. Selbst als die Bullen bei ihm gewesen waren und ihn gebeten hatten, sich noch einmal jede Kleinigkeit in Erinnerung zu rufen, die er vielleicht vergessen hatte, hatte er sich nicht daran erinnert, dass der Boden schmutzig gewesen war. Aber im Traum hatte er den Müll wieder vor sich gesehen. Vor allem deswegen war ihm irgendwann unbewusst klar geworden, dass irgendwas mit dem »Polizisten«, seinem »Kollegen« und ihrem Wagen nicht stimmte. Sean hatte noch nie den Rücksitz eines Polizeiautos gesehen, nicht aus der Nähe, aber irgendwie wusste er, dass dort kein Müll lag. Vielleicht hatten unter dem Müll ein paar angebissene Äpfel gelegen und deshalb hatte das Auto so gerochen.
Ein Jahr nach Daves Entführung kam Seans Vater in sein Zimmer, um ihm zwei Dinge mitzuteilen.
Das eine war, dass Sean auf der Latin School angenommen worden war und dort im September die siebte Klasse besuchen würde. Sein Vater sagte, er und seine Mutter seien wirklich stolz auf Sean. Zur Latin School ging man, wenn man etwas werden wollte.
Das Zweite äußerte Seans Vater im Hinausgehen, als falle es ihm gerade ein: »Sie haben einen von ihnen geschnappt, Sean.«
»Was?«
»Einen von den Typen, die Dave entführt haben. Sie haben ihn geschnappt. Er ist tot. Hat sich im Gefängnis aufgehängt.«
»Ja?«
Sein Vater sah ihn an. »Ja. Du brauchst jetzt keine Albträume mehr zu haben.«
Aber Sean fragte: »Und was ist mit dem anderen?«
»Der Typ, den sie festgenommen haben«, erklärte sein Vater, »hat der Polizei gesagt, der andere wäre längst tot. Letztes Jahr bei einem Verkehrsunfall gestorben. Alles klar?« Dem Blick seines Vaters konnte Sean entnehmen, dass dies das letzte Gespräch war, das sie zu diesem Thema führen würden. »Und jetzt wasch dir die Hände, wir wollen essen!«
Sein Vater ging und Sean saß auf dem Bett auf der Matratze, die an der Stelle eine Beule hatte, wo er seinen neuen Baseballhandschuh mit Ball versteckt hatte, dicke rote Gummibänder spannten sich fest um das Leder.
Der andere war auch gestorben. Bei einem Verkehrsunfall. Sean hoffte, dass er in dem Wagen gesessen hatte, der nach Äpfeln roch, dass er von einer Klippe gestürzt und samt Auto zur Hölle gefahren war.
II »Sad-Eyed Sinatras« (2000)
3 TRÄNEN IN IHREM HAAR
Brendan Harris liebte Katie Marcus wie verrückt, so richtig wie im Kino, ein ganzes Orchester dröhnte durch sein Blut und rauschte in seinen Ohren. Er liebte sie, wenn er aufwachte und wenn er zu Bett ging, er liebte sie von morgens bis abends und jede einzelne Sekunde des Tages. Brendan Harris würde Katie Marcus selbst dann lieben, wenn sie fett und hässlich wäre. Er würde sie mit unreiner Haut, ohne Brüste und mit dickem Flaum auf der Oberlippe lieben. Er würde sie ohne Zähne lieben. Er würde sie ohne Haare lieben.
Katie. Wenn ihm ihr Name durch den Kopf ging, hatte Brendan sofort das Gefühl, man hätte Lachgas in seine Muskeln gepumpt, als könne er über Wasser gehen, beim Bankdrücken einen Neunachser stemmen und ihn anschließend auf die andere Straßenseite schleudern.
Brendan Harris liebte jetzt alle Menschen, weil er Katie liebte und sie ihn. Brendan liebte den Verkehr und den Smog und das Geräusch der Presslufthämmer. Er liebte seinen nichtsnutzigen Vater, der ihm, seit er Brendan und seine Mutter verlassen hatte, nicht eine einzige Karte zu Weihnachten oder zum Geburtstag geschickt hatte, obwohl Brendan damals erst sechs Jahre alt gewesen war. Er liebte den Montagmorgen, er liebte Sitcoms, über die nicht mal ein geistig Zurückgebliebener lachen konnte, und er liebte das Schlangestehen beim Straßenverkehrsamt. Er liebte sogar seine Arbeit, obwohl er nie wieder hingehen würde.
An diesem Morgen verließ Brendan das Haus, verließ seine Mutter, ging durch die schäbige Tür die gesprungenen Stufen hinunter, die große, weite Straße mit den in zweiter Reihe geparkten Autos entlang, wo alle vor ihren Haustüren hockten, er verließ das Haus wie jemand aus einem geilen
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