Mystic River
Doppelmord mit zehn Straßen dazwischen?«, fragte Sean.
»Vielleicht ist sie aus der Kneipe gekommen und hat alles gesehen.«
Sean schüttelte den Kopf. »Der Zeitablauf ist für‘n Arsch. Wenn Boyle den hier getötet hat, dann zwischen halb und fünf vor zwei. Dann hätte er zehn Straßen weiter fahren müssen, um auf Katie Marcus zu treffen, die gerade um Viertel vor zwei die Straße entlangkam. Glaub ich nicht.«
Whitey lehnte sich gegen das Auto. »Nee, ich auch nicht.«
»Außerdem, das Loch da hinten bei dem im Rücken, das ist klein. Zu klein für eine.38er, wenn du mich fragst. Zwei Pistolen, zwei Täter.«
Whitey nickte und schaute auf seine Schuhe. »Versuchst du’s noch mal mit dem Harris?«
»Irgendwie landen wir immer wieder bei der Waffe seines Vaters.«
»Besorg dir vielleicht ein Bild von seinem Vater. Lass ihn am Computer älter machen, verteil das Bild. Vielleicht hat ihn jemand gesehn.«
Souza kam zu ihnen herüber und öffnete die Beifahrertür. »Soll ich mitkommen, Sean?«
Sean nickte und wandte sich wieder an Whitey: »Ist nur ‘ne Kleinigkeit.«
»Was denn?«
»Was uns fehlt. Ein unwichtiges Detail. Wenn ich das finde, mach ich den Sack zu.«
Whitey grinste. »Welchen ungeklärten Mordfall hast du denn sonst noch auf dem Schreibtisch, Junge?«
»Eileen Fiels, acht Monate her«, antwortete Sean, wie aus der Pistole geschossen.
»Können nicht alles Volltreffer sein«, meinte Whitey und ging wieder in Richtung Cadillac. »Verstehst du?«
Brendan schien keine schöne Zeit in der Arrestzelle gehabt zu haben. Er wirkte kleiner und jünger, aber auch wütender, als hätte er dort Dinge gesehen, von denen er nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Sean hatte allerdings darauf geachtet, dass Brendan in eine leere Zelle gesperrt wurde und keine Berührung mit Junkies und anderem Abschaum hatte, daher konnte sich Sean nicht erklären, was so schrecklich für den Jungen gewesen war. Vielleicht konnte er einfach nur nicht allein sein.
»Wo ist dein Vater?«, fragte Sean.
Brendan kaute an einem Fingernagel und zuckte mit den Schultern. »In New York.«
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehn?«
Brendan nahm den nächsten Finger in Angriff. »Als ich sechs war.«
»Hast du Katherine Marcus umgebracht?«
Brendan ließ die Hand sinken und starrte Sean an.
»Antworte mir!«
»Nein.«
»Wo ist die Pistole deines Vaters?«
»Ich weiß nichts davon, dass mein Vater eine Pistole hatte.«
Brendan blinzelte nicht, sondern starrte Sean mit einer grausamen, resignierten Müdigkeit an, in der Sean zum ersten Mal, seit er Brendan begegnet war, ein gewalttätiges Potenzial zu erkennen glaubte.
Was war nur mit dem Jungen in der Arrestzelle passiert?
»Welchen Grund hatte dein Vater, Katie Marcus umzubringen?«
»Keinen«, antwortete Brendan. »Mein Vater hat niemanden umgebracht.«
»Du weißt etwas, Brendan. Und du willst es mir nicht sagen. Ich hab eine Idee: Mal sehen, ob der Lügendetektor im Moment frei ist. Wir stellen dir noch mal ein paar Fragen.«
»Ich möchte mit einem Anwalt sprechen«, sagte Brendan.
»Gleich, sofort. Lass uns …«
Brendan wiederholte es: »Ich möchte mit einem Anwalt sprechen. Jetzt.«
Sean blieb ruhig. »Sicher. Hast du da jemand Bestimmten im Kopf?«
»Meine Mom kennt einen. Ich möchte telefonieren.«
»Hör zu, Brendan …«, begann Sean.
»Jetzt«, sagte Brendan mit Nachdruck.
Sean seufzte und schob das Telefon über den Tisch. »Die Neun vorwählen!«
Brendans Anwalt war ein alter, zäher irischer Hund, der schon hinter Krankenwagen hergelaufen war, als sie noch von Pferden gezogen wurden, kannte sich aber gut genug aus, um zu wissen, dass Sean seinen Mandanten nicht allein auf Grund eines fehlenden Alibis festhalten durfte.
»Wir haben ihn nicht gefangen gehalten«, stellte Sean klar.
»Sie haben meinen Mandanten in eine Zelle gesteckt«, sagte der Anwalt.
»Aber nicht abgeschlossen oder so«, erwiderte Sean. »Er wollte sich mal umsehen.«
Der Anwalt machte ein Gesicht, als habe Sean ihn enttäuscht, dann verließ er erhobenen Hauptes mit Brendan das Großraumbüro. Sean ging ein paar Akten durch, doch ergaben die Wörter keinen Sinn. Er schloss die Ordner und lehnte sich zurück, machte die Augen zu und sah Lauren mit seinem Traumkind vor sich. Er konnte die beiden riechen, wirklich.
Sean machte das Portemonnaie auf, holte einen Zettel mit Laurens Handynummer heraus, legte ihn auf den Schreibtisch und strich ihn glatt. Er hatte
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