Mystic River
dem nächsten Gummiband. Sean stand auf, streckte sich und fragte sich, was er zum Essen im Kühlschrank hatte.
»Sydney Street. Da ist Blut drin, und die Tür ist auf.«
»Wie heißt du, mein Junge?«
»Er will wissen, wie sie heißt. Er hat ›mein Junge‹ zu mir gesagt.«
»Hallo? Ich hab gefragt, wie du heißt. Wie heißt du? «
»Wir haben mit dem ganzen Scheiß nichts zu tun, Mann. Viel Glück.«
Die Verbindung brach ab, dann informierte die Notrufzentrale die Einsatzzentrale und Sean schaltete ab.
»Ich dachte immer, bei Tupac Shakur wäre das Instrumental länger«, sagte Whitey.
»Mensch, das war doch Snoop Doggy Dog. Hab ich doch gleich gesagt.«
Whitey gähnte erneut. »Geh nach Hause, Junge! Okay?«
Sean nickte und holte das Band aus dem Kassettenrekorder. Er schob es zurück in die Hülle und warf es über Whiteys Kopf in die Schachtel. Dann nahm er seine Glock und sein Holster aus der obersten Schublade und befestigte das Holster an seinem Gürtel.
»Sie«, sagte er.
»Was?« Whitey schaute ihn an.
»Der Junge da auf dem Band hat gesagt: ›Wie sie heißt‹. ›Er will wissen, wie sie heißt.‹ Als er von der toten Marcus sprach.«
»Klar«, antwortete Whitey. »Bei einem toten Mädchen heißt es immer ›sie‹.«
»Aber woher weiß er das denn?«
»Wer?«
»Der Junge, der angerufen hat. Woher weiß er, dass das Blut in dem Auto von einer Frau ist?«
Whitey nahm die Füße vom Tisch und schaute auf den Karton. Er griff hinein und holte die Kassette heraus. Dann warf er sie Sean mit einer schnellen Handbewegung zu.
»Spiel’s noch einmal, Sean«, forderte Whitey ihn auf.
26 VERLOREN IM WELTALL
Dave und Val fuhren in die Stadt und über den Mystic River zu der Spelunke in Chelsea, wo das Bier billig und kalt und ansonsten nicht viel los war. Nur ein paar alte Hafenarbeiter hockten herum, die offensichtlich ihr ganzes Leben lang in den Docks verbracht hatten, und vier Bauarbeiter, die sich über eine Frau namens Betty mit offenbar super Titten, aber schlechtem Benehmen stritten. Die Kneipe lag versteckt unter der Tobin Bridge, grenzte mit der Rückwand an den Mystic River und sah aus, als hätte sie ihre beste Zeit schon hinter sich. Alle kannten Val und grüßten ihn. Der Inhaber, ein klapperdürrer Kerl mit rabenschwarzem Haar und schneeweißer Haut, hieß Huey. Er machte die Theke und spendierte ihnen die ersten zwei Bier auf Kosten des Hauses.
Dave und Val spielten eine Zeit lang Billard, dann setzten sie sich mit zwei Bieren und zwei Schnapsgläsern in eine Ecke. Durch die beiden quadratischen, auf die Straße hinausgehenden Fenster fiel zuerst goldenes, dann indigoblaues Licht. Anschließend brach die Dämmerung herein. Der Tag hatte sich schneller verabschiedet, als Dave lieb war. Val war eigentlich ein ganz netter Kerl, wenn man ihn richtig kennen lernte. Er erzählte Geschichten aus dem Knast und von Überfällen, die schief gelaufen waren, eigentlich ganz schön gruselige Geschichten, aber irgendwie klangen sie bei Val lustig. Irgendwann fragte sich Dave, wie es wohl sein mochte, wenn man wie Val war: wenn man keine Angst kannte, auch selbstsicher war und trotzdem so winzig klein war.
»Einmal ist dieses Ding passiert. Damals, als Jimmy schon weg vom Fenster war und wir uns Mühe gaben, die Gang zusammenzuhalten. Wir schnallten nicht, dass wir nur deshalb Diebe waren, weil Jimmy immer alles für uns austüftelte. Wir mussten ihm immer nur zuhören, seine Befehle befolgen und gut war es. Aber ohne ihn waren wir Idioten. Dies eine Mal also, da zocken wir so einen Briefmarkensammler ab. Er sitzt gefesselt in seinem Büro und ich und mein Bruder Nick und dieser Carson Leverett, der zu blöd ist, sich die Schuhe zuzubinden, wenn man es ihm nicht vormacht, wir fuhren mit dem Aufzug nach unten. Wir ganz cool. Wir hatten Anzüge an, die saßen wie angegossen. Steigt so ‘ne feine Dame zu uns und keucht los. Richtig laut. Wir haben keine Ahnung, was los ist. Wir sehen doch anständig aus, oder? Ich gucke Nick an und der glotzt zu Carson Leverett rüber, weil dieser Blödmann immer noch die Maske aufhat.« Lachend schlug Val auf den Tisch. »Kannst du dir das vorstellen? Der trägt eine Ronald-Reagan-Maske, diese große grinsende, die damals verkauft wurde! Und der trägt die!«
»Und ihr habt das nicht gemerkt?«
»Nee. Das ist es ja«, sagte Val. »Wir gingen aus dem Büro, ich und Nick setzten unsere ab und dachten, Carson würde das auch machen. So was passiert ständig
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