Mystic River
bei unseren Brüchen. Weil, man ist hektisch und dumm und will einfach nur raus. Manchmal übersieht man, was einem eigentlich sofort ins Auge springen müsste. Es starrt einen an und man sieht es nicht.« Er schmunzelte und kippte einen Kurzen runter. »Deswegen hat uns Jimmy so gefehlt. Er hat immer an alles gedacht. Man sagt doch, ein guter Quarterback überblickt das ganze Spielfeld. Jimmy hatte auch immer das ganze Spielfeld bei der Arbeit im Blick. Er sah voraus, was eventuell schief gehen konnte. Er war ein verfluchtes Genie!«
»Aber er ist ausgestiegen.«
»Klar«, erwiderte Val und zündete sich eine Zigarette an. »Wegen Katie. Und dann wegen Annabeth. Ich glaub nicht, dass er jemals richtig davon überzeugt war, unter uns gesagt, aber so ist das halt. Manchmal werden Leute erwachsen. Meine erste Frau meinte immer, das wär mein großes Problem – ich würde nicht erwachsen werden. Ich mag die Nacht zu gern. Der Tag ist nur zum Schlafen gut.«
»Ich hab’s mir immer anders vorgestellt«, sagte Dave.
»Was?«
»Das Erwachsensein. Dass man sich anders fühlt, ja? Dass man sich erwachsen fühlt. Wie ein Mann.«
»Fühlst du dich nicht so?«
Dave lächelte. »Manchmal schon. Für einen kurzen Augenblick. Aber meistens fühle ich mich ungefähr so wie mit achtzehn. Ich wache oft auf und denke: Ich hab ein Kind? Ich hab eine Frau? Wie ist das denn passiert?« Dave merkte, dass der Alkohol seine Zunge lähmte und ihm schwindelig wurde, weil er nichts gegessen hatte. Er wollte aber seine Erklärung zu Ende führen, damit Val begriff, was er für einer war, und ihn mochte. »Ich glaub, ich hab immer gedacht, eines Tages würde das Gefühl bleiben. Verstehst du? Eines Tages würde ich aufwachen und mich einfach erwachsen fühlen. Dann hätte ich alles im Griff, so wie die Väter in den alten Spielfilmen.«
»Wie James Steward, was?«, fragte Val.
»Ja. Oder wie diese Sheriffs, du weißt schon, John Wayne, solche Typen. Das waren Männer. Immer.«
Val nickte und trank einen Schluck Bier. »Im Knast hat mal einer zu mir gesagt: ›Das Glück dauert nur einen Moment, dann ist es weg bis zum nächsten Mal, kann Jahre dauern! Aber Traurigkeit‹«, Val zwinkerte ihm zu, »›Traurigkeit setzt sich fest.‹« Val drückte die Zigarette aus. »Ich mochte den Macker. Er hatte immer so coole Sprüche drauf. Ich hol mir noch ‘nen Kurzen. Du auch?« Val stand auf.
Dave schüttelte den Kopf. »Hab den hier noch nicht mal weg.«
»Na, los!«, sagte Val. »Entspann dich!«
Dave blickte in das lachende, zerknautschte Gesicht und antwortete: »Na gut.«
»Gut, der Mann!« Val schlug ihm auf die Schulter und ging zur Theke.
Dave beobachtete Val, der sich an die Bar stellte, mit einem alten Dockarbeiter sprach und auf die Getränke wartete. Dave hatte den Eindruck, die Typen hier drin wüssten, wie man ein Mann war. Männer ohne Selbstzweifel, Männer, die niemals Taten in Frage stellten, Männer, die sich von der Welt und die in sie gesetzten Erwartungen nicht beirren ließen.
Es war Angst, vermutete er. Mit der er immer gekämpft hatte und die anderen nicht. Die Angst hatte sich in jungen Jahren in ihm breit gemacht – hatte sich festgesetzt, so wie es Vals Gefängniskumpel von der Traurigkeit behauptet hatte. Die Angst hatte einen Platz in Dave gefunden und ihn nicht mehr verlassen. Daher hatte er Angst, etwas Falsches zu tun, hatte Angst, es zu versauen, hatte Angst, nicht intelligent zu sein, hatte Angst, kein guter Ehemann und kein guter Vater und überhaupt kein richtiger Mann zu sein. Die Angst war schon so lange in ihm, dass er sich nicht genau erinnern konnte, wie es ohne sie war.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos blendeten Dave, weil die Eingangstür aufgegangen war. Dave musste blinzeln und konnte den eintretenden Mann nur schemenhaft erkennen. Er war kräftig gebaut und hatte vermutlich eine Lederjacke an. Eigentlich hatte er ein bisschen Ähnlichkeit mit Jimmy, er war nur größer und hatte breitere Schultern.
Es war tatsächlich Jimmy. Dave bemerkte es, nachdem die Tür geschlossen worden war und er wieder besser sehen konnte. Jimmy trug eine schwarze Lederjacke, einen dunklen Rollkragenpullover und eine Khakihose. Er nickte Dave zu, als er neben Val an die Theke trat. Er flüsterte Val etwas ins Ohr, und Val blickte sich über die Schulter zu Dave um und sagte dann etwas zu Jimmy.
Dave wurde langsam schwummerig. Das lag daran, dass er auf nüchternen Magen Alkohol getrunken hatte,
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