Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
meisten.
Sie erhob sich, kleidete sich an und sah, dass sie sich beeilen musste. Die ersten Wagen rollten über den Sand, und Menschen, hunderte, nein, tausende Menschen, näherten sich der gigantischen Baustelle. Eine dunkle Silhouette des Fleißes.
»Bald, schöne Sephrete«, wiederholte der Jüngling.
»Ja, bald«, gab sie zurück und sah ihm tief in die Augen. Dort loderte ein Feuer, das sie erschreckte, und im selben Moment wusste sie, dass sie sich täuschte. Er würde alles tun, um sie endgültig zu besitzen. Alles, was ein Mensch tun konnte.
Und wenn es ihm als Sterblicher nicht gelang, würde er andere Wege finden.
Fröstelnd und erschüttert ging sie zu ihrem Schimmel, stieg auf und ritt davon.
Sie war nach Ägypten gekommen, um einen Bericht über Land und Leute zu schreiben. Genauer gesagt, über eine Fahrt auf einem der typischen Nilschiffe und über zeitgeschichtliche Attraktionen, die man an den Ufern des Flusses besichtigen konnte. Die Reportage sollte als vierfarbige Sonderbeilage in einer der nächsten dreifingerdicken Wochenendausgaben der USA Today erscheinen. Ganz Amerika würde ihren Namen lesen.
Linda Wayne.
Seit sechs Jahren war sie als Reporterin für diese größte aller Zeitungen tätig. Da der Verlag die Reise bezahlte, hatte Linda ihre Tochter Grace nach Ägypten mitgenommen.
Grace war 13 Jahre alt, ein hübsches Mädchen mit dunklen Augen und langen schwarzen Haaren. Vor fünf Jahren war ihr Vater, Bernard Wayne, bei einem Unfall umgekommen. Es hatte lange gedauert, bis das Kind den Tod ihres Vaters verkraftet hatte.
Linda, die ihre Tochter über alles liebte, war eine Frau, die nicht aufgab. Sie hatte schlimme und einsame Zeiten durchlebt. Viele Nächte hatte sie um ihren Mann geweint. Sie hatte Wochen erlebt, da meinte sie, an einem Abgrund zu stehen. Sie hatte in ein schwarzes Nichts gestarrt und darauf gewartet, dass Bernard hinter sie trat, seine Arme um sie legte, um sie an sich zu drücken und zu liebkosen. Sie liebte Bernard auf eine sanfte, entfernte Weise noch immer, und nicht zuletzt dies war der Grund, weshalb sie Beziehungen zu anderen Männern bisher ausgewichen war. Man fand sie attraktiv, ihr fein geschnittenes Gesicht, dominiert von großen dunklen Augen und die schulterlangen, rotblonden Haare.
Bernard fehlte ihr sehr. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ihm dieses Ägypten gefallen hätte. Zu seiner Lebenszeit waren sie ausschließlich in den USA verreist. Mal nach Miami, ein Trip nach Las Vegas, eine Canyontour, zwei unbeschwerte Wochen in Santa Monica. Es war stets ihr Traum gewesen, Europa zu besichtigen, Paris, Rom, München oder Heidelberg. Von Nordafrika hatten sie geträumt, von Griechenland und von Ägypten.
Nun war sie hier. Ohne Bernard.
Das machte die Erinnerungen intensiver, wühlte auf und förderte längst Verarbeitetes zutage. Sie hatte der Trauer um ihren Mann getrotzt und sich ihrem Beruf hingegeben, ohne ihre Tochter zu vernachlässigen. Sie war eine alleinerziehende Mutter, und sie war stolz darauf.
Es war noch jemand bei ihnen.
Brad Leland. Er arbeitete als Fotograf bei USA Today . Er fotografierte die Reise. Brad galt als hervorragender Landschaftsfotograf und seine Porträts fremder Kulturen hatten ihm einen guten Namen gemacht. Es hieß, Life habe ihm ein Angebot unterbreitet. Würde Brad nach diesem Auftrag USA Today verlassen?
Derzeit trieb Brad sich irgendwo draußen in der sengenden Sonne herum. Wahrscheinlich war Grace bei ihm. Sie himmelte den hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann an.
Vor ein paar Minuten hatte Linda die Grabkammer betreten.
Ein kühler Raum, weniger prächtig, als sie vermutet hatte. Sie hatte Angst. Denn etwas stimmte nicht. Sie kniff die Augen zusammen und musterte die Grabbemalungen an den Wänden. Hieroglyphen, seltsame Schriftzeichen, die eine faszinierende Fremdartigkeit ausstrahlten.
Sie zuckte zusammen. Erneut hörte sie ein düsteres Murmeln, das ihr Angst eingejagte. Stimmen, die um sie herum waren wie milder Wind. Sie wollte von der Steinbank aufspringen und die Grabkammer verlassen. Etwas Unsichtbares hielt sie zurück. War es journalistische Neugierde?
Ein helles Licht wischte durch die Kammer. Der Fels glitzerte verführerisch, als hätte sich ein Netz funkelnder Kristalle über die Steinwände gelegt.
So wunderschön dies aussah, so unheimlich war es.
Was hier geschah, durfte nicht sein und entzog sich jeder Logik. Linda bekam eine Gänsehaut. Sie blinzelte, als könne sie den
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