Mystic
alte Frau missmutig.
»Und sieh nur, wie du dich wieder erholt hast. Wenn du mit der Therapie weitermachst, wird’s dir wieder bessergehen.« Die alte Frau ergriff diesen Strohhalm. »Wirklich?«
»Aber natürlich«, antwortete Nightingale und flocht den Zopf zu Ende.
Olga schwieg einen Moment, dann sprang sie auf. »Fast hätte ich es vergessen. Ich habe dir einen Kuchen gebacken.«
Im Laufe der Jahre hatte Olga für ihre Kuchen bei der jährlichen Herbstmesse von Vermont ein halbes Dutzend Preise gewonnen. Doch Andie hatte einen Bericht über Hank Potters Autopsie von diesem Morgen und die anschließende Konferenz zu schreiben. »Liebling, ich habe keine Zeit.«
»Unsinn. Du isst ein Stück Kuchen. Und trinkst eine Tasse Earl Grey.«
Mit diesen Worten eilte die alte Dame aus dem Wohnzimmer in die Küche. Andie stand auf und folgte ihr stirnrunzelnd. Olgas Zustand schien bei jedem Besuch schlechter geworden zu sein, sie wurde immer vergesslicher, unsicherer. Sogar die so oft wiederholten Geschichten aus ihrer gemeinsamen Kindheit mit Andies Mutter wurden allmählich immer verworrener. Die Sprachtherapeutin, zu der Andie Olga einmal die Woche brachte, meinte, die Schlaganfälle hätten eine leichte Form von Demenz zur Folge gehabt. Andie setzte sich auf einen Stuhl am Küchentisch, und während sie die alte Frau beobachtete, forschte sie nach weiteren Anzeichen der Verschlechterung.
Olga schnitt geschickt ein Stück von dem Apfelkuchen ab, legte es auf einen Teller und tat noch eine Kugel Vanilleeis dazu. Dann stellte sie den Teller und eine dampfende Tasse Tee vor Andie auf den Tisch. Nachdem sie noch ein Scheit Holz in den Ofen geschoben hatte, trat sie ans Küchenfenster und sah an der Eiche vorbei zu dem alten Kuhstall hinüber. Narzissentriebe lugten aus dem sprießenden Gras hervor, das einen Pfad säumte, der zwischen hohen Lavendelsträuchern hindurchführte, die ihre ersten Knospen zeigten.
»Der verrückteste Frühling, den ich je erlebt habe, und ich habe viele Frühlinge in Vermont erlebt«, sagte sie. »Meinst du, die Bären haben schon ihre Höhlen verlassen?«
»Wahrscheinlich schon vor einem Monat oder noch länger«, antwortete Andie. Die Frage überraschte sie nicht. Die alte Frau hatte sich immer lebhaft für Bären interessiert.
Olga fasste sich ans Kinn. Eine einfache Geste, doch bei der alten Frau geriet es zu einer Geste der Verwirrung. »Die Indianer hielten Bären für heilige Tiere«, sagte sie. »Hast du das gewusst?«
»Ich glaube, ich habe es schon mal irgendwo gelesen«, antwortete Andie und war nur halb bei der Sache. Sie konzentrierte sich verwundert auf den Geschmack des Kuchens. Die Decke war so gut wie immer, aber die alte Dame hatte vergessen, Muskatnuss, Zimt und Zucker hineinzutun.
»Olga, ich werde dir für morgen einen Termin bei der Sprachtherapeutin besorgen.«
Olga wandte sich um und näherte ihr Gesicht einem Kalender, der über dem Spülbecken hing. »Aber mein Termin ist doch erst am Donnerstag.«
»Ich weiß. Ich möchte aber trotzdem, dass sie mit dir spricht … über deine Vergesslichkeit.«
Olga nickte bedrückt. »Wenn du meinst, Liebes.«
Andie bekam den letzten Bissen Kuchen mit einem Mundvoll Eiskrem hinunter und verkündete dann: »Ich muss jetzt los. Geht’s dir auch gut?«
»Um so einen alten Vogel umzuhauen, gehört schon noch mehr dazu als ein Kälteeinbruch!«, antwortete Olga fröhlich. Doch im nächsten Augenblick fiel die Heiterkeit von ihr ab. Sie rang die Hände, während Andie sich eine Daunenweste und eine grüne Regenjacke überzog und nach ihrem Notizbuch griff. Olga eilte zu ihr und ergriff ihre Handgelenke mit unerwarteter Kraft. Das Zucken in ihren Wangen wollte nicht mehr aufhören.
»Es ist schwer, Geheimnisse zu bewahren«, brachte Olga zögernd und mit großer Anstrengung hervor. Sie machte eine Pause, als versuchte sie herauszufinden, woher sie diesen Gedanken hatte, und fuhr dann fort: »Manchmal ist das Bewahren eines Geheimnisses die mutigste Sache der Welt.«
Olgas Blick verlor sich in der Ferne. »Ich glaube, Bären pflegen ihre Geheimnisse in Höhlen aufzubewahren, meinst du nicht?«
Das Licht, das durchs Küchenfenster hereinfiel, warf Schatten auf das Gesicht der alten Frau.
»Du hast recht«, sagte Andie. »In Höhlen bewahren Bären ihre Geheimnisse auf. Aber jetzt, meine Liebe, muss ich zur Arbeit zurück.«
Olgas Griff wurde fester. »Ich wollte … Ich wollte dir was erzählen, aber ich kann … ich kann
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