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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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mich nicht daran erinnern …«
    »Es muss halt bis morgen warten.« Andie entwand sich sanft dem Griff der alten Frau. »Ich bin um elf hier, um dich zur Therapie zu bringen.«
    Die alte Frau sah aus, als wollte sie wieder zu weinen beginnen, aber sie beherrschte sich. »Komm man schon früh«, bat sie. »Der Bär ist wieder um das Haus herumgestrichen, und ich bin mir sicher, dass ich dir etwas erzählen muss, dass ich dir etwas geben muss. Es … Es wird mir inzwischen sicher wieder einfallen.«
    »Da bin ich mir sicher«, beruhigte Andie sie. »Ich rufe die Sprachtherapeutin an, sobald ich wieder im Büro bin, und verlege den Termin vor. Und nicht im Bett rauchen, hörst du?«
    Olgas verwirrter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein verstehendes Lächeln: »Nein, Liebes, nur im Schaukelstuhl und mit dem Aschenbecher auf dem Schoß.«
    Andie gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging aus der Tür. Der Motor ihres Pick-ups brauchte lange, bis er ansprang. Der Wagen hatte mehr als hundertfünfzigtausend Meilen auf dem Buckel. Ihr Mechaniker hatte sie gewarnt, dass der Anlasser dabei war, seinen Geist aufzugeben, aber sie hatte noch keine Zeit gefunden, ihn reparieren zu lassen. Endlich sprang der Motor an, und sie legte den Rückwärtsgang ein. Als sie an der Küchentür vorbeifuhr, verlangsamte sie ihr Tempo und winkte der alten Frau zu, die zurückgrüßte, als wäre sie ein kleines Mädchen, das den Bären in einer Zirkusparade zuwinkt.

11
    Der Grabstein, ein Rechteck aus rosafarbenem Marmor, begrenzte einen Grashügel in der äußersten nordöstlichen Ecke des Gartens hinter dem Pfarrhaus von St. Edwards.
    PATER VICTOR D’ ANGELO ,
    18 . MÄRZ 1859 – 29 . APRIL 1918
    GOTT SEI DER UNSTERBLICHEN SEELE
    DEINES DIENERS GNÄDIG
    Gallagher brach schon beim Betrachten des Grabes der Schweiß aus, und er versuchte seine Beklemmung mit einer saloppen Bemerkung zu überspielen: »Das sieht ja nicht nach allzu viel Vertrauen in die Heiligkeit aus.«
    »Es ist eine für die Zeit recht typische Grabinschrift«, erwiderte Monsignore McColl. »Sicherlich nichts, worauf Rom besonders achten würde.«
    Der Priester fröstelte und zog den Reißverschluss seiner Windjacke höher zu seinem stiernackigen Hals herauf. Über einen roten Lehmweg, der an einer zwei Meter hohen Backsteinmauer und ausgewachsenen Rottannen vorbeiführte, gingen sie zum Pfarrhaus zurück.
    »Worauf wird Rom denn besonders achten?«, fragte Gallagher. »Was ich für den Moment brauche, sind die Höhepunkte in Pater D’Angelos Geschichte. Einzelheiten können wir später mit der Kamera nachholen.«
    Monsignore McColl blieb mit gespreizten Beinen vor einer Magnolie stehen und legte die Hände auf dem Rücken zusammen wie ein Feldwebel vor seinen Rekruten. Die Knospen an der Magnolie waren schon kurz vor dem Aufbrechen gewesen, als der Kälte- und Regeneinbruch kam. Die Lippen der kleinen, braunen Kegel waren an den Spitzen aufgebrochen und zeigten ihr rotes Inneres, in der Schwebe zwischen Winter und Frühling.
    »Pater D’Angelo wurde im Jahre 1859 in der italienischen Provinz Kalabrien geboren. Er war das zweite Kind eines tiefgläubigen katholischen Steinmetzmeisters, der in die Vereinigten Staaten auswanderte, als Victor fünf war«, begann Monsignore McColl. »Sein Vater arbeitete in den Marmorbrüchen bei Proctor, hier im Staate Vermont. Und wir wissen anhand der wenigen Schriftstücke, die aus jener Zeit erhalten sind, dass er den Jungen anhielt, ein gottgefälliges Leben zu führen. Victor trat mit siebzehn ins Priesterseminar ein und wurde mit vierundzwanzig ordiniert.
    Er betreute Pfarrgemeinden in Bellows Falls und Arlington, bevor er nach Norden zog und 1891 nach Lawton kam«, fuhr der Priester fort. »Den Briefen nach, die er an seine Eltern schrieb, gefielen ihm Stadt und Pfarre. Er blieb hier bis zu seinem Tode im Jahre 1918 . Er erlebte gute und schlechte Zeiten hier.«
    »Schlechte Zeiten?«
    »Lawton war eine aufstrebende Stadt, als Pater D’Angelo kam«, antwortete Monsignore McColl und wies mit einer Schulter zur Stadt hin. »Es gab Textilfabriken am Fluss. Auf einer Nebenlinie der Eisenbahn konnten die Unternehmen ihre Waren nach Süden befördern. Und es gab eine florierende Landwirtschaft um die Stadt herum. Doch kurz nach der Jahrhundertwende brach Lawtons Wirtschaft zusammen. Die Textilbetriebe wurden geschlossen. Die Eisenbahngesellschaft befand, dass es sich nicht lohnte, die Bahnlinie aufrechtzuerhalten. Es war ein

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