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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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leer.
    Gallagher fühlte sich von den Ereignissen des Tages erschöpft. Da er fast vor Hunger starb, briet er sich ein Steak, um dann schon die zweite Nacht die Treppe hinaufzustolpern und völlig angekleidet aufs Bett zu fallen. Mehrere Stunden lang schlief er tief und traumlos; dann kamen die schrecklichen Bilder des Tages an die Oberfläche und wirbelten in jenem intuitiven Zustand am Rande des Bewusstseins durcheinander. Er sah den verkohlten Körper von Olga Dawson, das Monster, das ihm mit seinem blutigen Phallus drohte, und Andies plötzlichen, seltsamen Zusammenbruch.
    Dann liefen die Bilder rückwärts, und plötzlich saß Gallagher aufrecht im Bett und sprach in die Dunkelheit hinein: »Andie hat Lieutenant Bowman gar nichts von der goldenen Kette gesagt.«

15
    Draußen wehte ein starker Wind. Der Lichtstrahl von Gallaghers Taschenlampe glitt über das nasse, wirbelnde Laub auf dem Pfad, der von der Hütte auf die River Road hinaus und zu Andies Haus führte. Durch die Hecke konnte er sehen, dass im Erdgeschoss Licht brannte. Er lief, so schnell er konnte, und dachte dabei: Weshalb hatte eine langgediente Polizistin eine goldene Kette verheimlicht, die sie am Tatort eines Mordes gefunden hatte?
    Gallagher klopfte an die Hintertür, wartete einen Augenblick und klopfte dann noch einmal lauter. Er vernahm hinter sich ein melodiöses, durchdringendes Geräusch, stutzte, wandte sich um und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Es klang wie eine Flöte, die gegen den Rhythmus einer Tanzrassel anblies, das gleiche Geräusch, das er beim Aufwachen vor ein paar Tagen gehört hatte. Doch gleich darauf wurde die Melodie vom Wind verschluckt. Gallagher öffnete die Tür und trat ein, wobei er leise rief: »Hallo! Jemand zu Hause?«
    Es war nichts zu hören außer dem Knistern und Knacken des Feuers im Ofen. In der Küche roch es nur nach ihr, doch als er näher kam, war da noch ein anderer Geruch, schrecklich vertraut. So hatte der Atem seiner Mutter gerochen.
    Andie hatte die Stirn auf dem Tisch in die Armbeuge ihrer grünen Chamoisbluse gelegt, die sie zu einem Paar Jeans trug. Neben ihrem Ellenbogen stieß ein umgestürztes Saftglas mit dem Rand an eine Wodkaflasche, die zu einem Drittel geleert war. Sie war barfuß. Ihr rechter Arm lag ausgestreckt auf dem Tisch, und eine dünne, goldene Kette hing zwischen ihren gekrümmten Fingern. An der Kette hing ein zierliches Kreuz, das auf ihrer Handfläche ruhte. Dort, wo sich Stamm und Querbalken des Kreuzes trafen, war der Splitter eines kleinen roten Edelsteins eingefasst.
    Neben Andies ausgestrecktem Arm lagen zwei Streifen tannengrünen Stoffes, die an einem gegerbten Lederbeutel befestigt waren, der vielleicht fünfzehn Zentimeter lang und fünfundzwanzig Zentimeter breit und vom Alter rissig war. Ein genaues Ebenbild der Goldkette und des Kreuzes mit dem kleinen roten Edelstein hing halb aus der Öffnung des Beutels, neben einem Bündel vergilbter Blätter, die am linken Rand eingerissen und so brüchig und durchsichtig geworden waren, dass Gallagher die schwachen Spuren einer Handschrift erkennen konnte, obwohl die Seiten nach innen gefaltet waren.
    Die alten Papiere lösten eine unerklärliche Übelkeit in ihm aus. Gallaghers Blick glitt wieder zu der Wodkaflasche neben dem ausgestreckten Arm, was die Übelkeit so weit verstärkte, dass eine Flamme in seine Kehle züngelte. Er sah sich selbst als kleinen Jungen in eine Küche laufen, wo er seinen Vater in genau derselben Haltung fand, ihn aufzuwecken versuchte und weinte, weil er Angst hatte, Seamus käme nicht wieder zu sich. Gallagher überkam der Drang, sofort wieder zu gehen und Andie den Kampf mit ihren Dämonen allein führen zu lassen, wie sie es selbst für richtig hielt.
    Aber etwas an den vergilbten Papieren zog ihn an, ließ ihn nicht gehen. Gallagher nahm sie in die Hand, setzte sich in den Ledersessel neben dem Ofen und begann zu lesen:
    3 . November 1893
    Heute Nacht werden sie mich umbringen. Ich bin mir ganz sicher.
    Aber ich habe keine Angst, denn ich muss es ja nur jetzt durchstehen. Danach werde ich mit Ten Trees und Painted Horses tanzen, und der rote Staub wird sich unter unseren Füßen in die warme Luft erheben, und unser Gesang wird wie ein Wirbelwind über die Ebenen wehen.
    Ich muss die Augen schließen, um es richtig hören zu können, das Stampfen der Füße, in dem sich tausend, dann zehntausend meiner Brüder und Schwestern finden, und unsere Füße werden wie die donnernden Hufe

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