Mystic
der Büffel sein, wenn sie wiederkehren. Wir tanzen alle in einem großen Kreis, immer rundherum und rundherum. Bis Wakan Tanka das Stampfen unserer Mokassins gegen die Erde hört und der Himmel aufbricht und wir wieder über die Erde gehen.
Großvater, ich sende eine Stimme. Zu den Himmeln des Universums sende ich eine Stimme hinauf.
Seit Stunden halte ich mich nun schon hier im Kartoffelkeller versteckt. Es gibt hier Möhren, Kartoffeln und Kürbisse genug, um mich davon eine Woche zu ernähren. Und eine Flasche Öl für die Lampe. Und Wasser, das aus der Erde sickert. Ich habe die Pfeife von Ten Trees, die heiligen Steine und genügend Tabak, um die Zeremonien zu Ende zu bringen.
Dann werden sie kommen. Wie sie immer gekommen sind. Aus Gier. Aus Bosheit.
Sie werden ein letztes Mal versuchen, mich dazu zu bewegen, sie die heiligen Dinge zu lehren, die ich von Ten Trees und Kicking Bear gelernt habe. Und dann wird das Töten geschehen. Weil ich eine Squaw bin. Und sie weiß sind. Weil sie glauben, ich gehöre ihnen genauso wie ein Knochen, den sie nehmen oder auf einen Haufen werfen können.
Ich habe keine Angst vor ihnen oder vor dem Tod. Ten Trees hat mich immer gelehrt, dass man dem Tod ins Gesicht sehen soll, wenn er kommt. Er meinte, man muss mit offenen Augen in den Tod gehen, um lauteren Sinnes in das einzugehen, was jenseits liegt.
Ten Trees, Crazy Horse, Sitting Bull, Big Pool, Painted Horses und jetzt ich, Many Horses. Der Winter ist ja auch die Sterbezeit für die Lakota. Der erste Wintersturm kam letzte Nacht, kalt und böse wie ein Rudel Wölfe auf der Jagd. Sie sind unterwegs und suchen mich. Ich werde einige von ihnen töten, bevor ich sterbe.
Wenn ich an meine Mutter, Painted Horses, denke, dann denke ich, wir werden alle so werden wie der Blizzard – eiskalt, mit scharfen Zähnen und auf der Jagd nach der Furie unseres Lebens.
Ich habe mir eine Haarlocke abgeschnitten und sie im Rauch des Süßgrases gebadet, das ich im August am Bluekill gesammelt hatte. Ich habe sie zum Himmel, zur Erde und in die vier Richtungen des Universums gehalten. Dann wickelte ich sie in Hirschleder, wie man es mich gelehrt hat. Dieses Haar kann meine Seele befreien.
Doch wer soll meine Seele und mein Haar beschützen, bis ich befreit werden kann? Wer wird die junge Büffelkuh töten und ihr Fell nehmen? Welche Frau wird sich um mein Bündel kümmern? Welche Frau wird meine Seele an einen Dreifuß hängen, so dass sie nach Süden sieht, und sie mit einer Büffelhaut und den Federn eines Adlers bedecken?
Ich habe keine Angst zu sterben. Ich bin jetzt fertig und für sie bereit. Doch werde ich nicht einfach so gehen wie ein ängstlicher Hirsch, der sich in einer Fallgrube gefangen hat. Ich werde durch die Nacht im Schnee zu meinem geheimen Platz laufen und dort noch ein letztes Mal tanzen. Nach dem Tanz mögen sie kommen, wenn sie den Mut dazu haben.
Großvater, ich sende eine Stimme. Zu den Himmeln des Universums hinauf sende ich eine Stimme.
Ein Druck entstand in Gallaghers Brust, als er diese letzten Zeilen las. Das war ein Stück aus einem alten Tagebuch, obwohl er in all seinen Studien- und Reisejahren nie etwas Ähnliches gelesen hatte – bruchstückhafte, fast halluzinatorische Gedanken, die jemand vor mehr als hundert Jahren unter tödlicher Bedrohung niedergeschrieben hatte. Wer war die Autorin? Was war mit ihr geschehen? Gallaghers Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken, dass dies ein wichtiger anthropologischer Fund sein könnte. Er musste Jerry anrufen.
Der Lederbeutel verrutschte auf seinem Schoß. Eine Locke pechschwarzen Haars, ungefähr fünfzehn Zentimeter lang und zwischen zwei Stücke Wachstuch gelegt, fiel auf seinen Schenkel. Einige Haarsträhnen ragten aus dem Wachstuch hervor. Gallagher fuhr leicht mit den Fingern darüber, zog sie aber rasch zurück, als er ein leichtes Stechen spürte, ähnlich dem Gefühl, das er erlebt hatte, als ihm vor Jahren in Afrika Feuerameisen über die Hand gelaufen waren.
»Das ist doch nicht möglich«, flüsterte er vor sich hin.
Ein lautes Knacken wurde hörbar, als eine Patrone in die Kammer der Pistole geschoben wurde. Gallagher sah von den Haaren auf. Der Lauf von Andie Nightingales Dienstwaffe war direkt auf seine Brust gerichtet.
16
Andie stützte beide Ellenbogen auf die Tischplatte und hielt den Pistolenkolben mit beiden Händen fest umklammert – nur zwei Meter war er von seinem Gesicht entfernt und tanzte wild auf und
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