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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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wieder in die Kissen drückte. »Weshalb? Hast du etwa seinen Geist gesehen?«
    Flügel flatterten in seinem Magen. Ein Geist? Unmöglich. Er glaubte nicht an Geister oder überhaupt an irgendein Leben nach dem Tode.
    »Nein«, sagte er schließlich. »Es muss mir nur irgendwie logisch vorgekommen sein, dass sie hier einmal gelebt hat.«
    Die Morgendämmerung war gekommen und mit ihr ein orangefarbener Himmel, dessen Licht durch das Fenster hereinfiel und einen weiteren Frühjahrssturm ankündigte. Andie ging in die Küche hinunter, und bald war das Knacken und Knistern des Ofens zu hören; und dann roch er in der sich erwärmenden Luft den Duft gebratener Eier. Gallagher sah aus dem Fenster auf die Kiefern und den Fluss und konnte den Traum nicht abschütteln. Er versuchte, ihn mit seinem Unbewussten zu erklären, das die Ereignisse der vergangenen fünf Tage auf diese Weise verarbeitete. Das war zu erwarten gewesen.
    Doch die Beschaffenheit des Traumes – sie war nicht zu erklären. Sarah Many Horses war nicht als ein Körper in irgendeiner erkennbaren Form erschienen, sondern eher als eine Menge aufgeregter Elektronen, die irgendwie in sein Hirn eingedrungen waren. Er fragte sich, ob er dabei war, verrückt zu werden.
    Andie erschien mit dem Frühstückstablett in der Tür. Sie stopfte ihm Kissen hinter den Rücken. Um ihm das Tablett auf den Schoß zu stellen, musste sie sich nah zu ihm herunterbeugen. Sie roch nicht mehr nach Alkohol, sondern nach einer berauschenden Mischung aus schläfriger Frau und Kiefernholzrauch. Die Flügel in Gallaghers Magen flatterten noch ein bisschen schneller, und einen Augenblick lang hatte er die Vorstellung, ihre Haut habe sich in schimmernde Lichtpunkte aufgelöst.
    »Ich glaube, heute wirst du dich besser fühlen«, sagte sie.
    »Das tue ich schon«, sagte er und sah sie dabei eindringlich an.
    Andie wurde rot und wandte sich ab, den Handrücken gegen die Wange gepresst. Sie nahm ihren Kaffeebecher von einem Schreibtisch aus Tannenholz und setzte sich in den Polstersessel in der Ecke, die Beine unter den Körper gezogen. Sie sah ihn nicht an.
    Während Gallagher das Rührei, den Toast und den Kaffee verschlang, schrumpften die Flügel in seinem Magen immer mehr zu Augustschmetterlingen. Als er fertig war, glaubte er durchaus, dass der Traum und sogar der Moment, der sich gerade zwischen ihm und Andie eingestellt hatte, eine physiologische Gegenreaktion gewesen waren, bestehend aus chemischem Ungleichgewicht, Erschöpfung und Hungergefühl.
    Andie sah aus dem Fenster zum Bluekill hinüber und biss auf die Haut an ihrem Fingernagel. »Charun ist nicht nur gekommen, um mein Stück von Sarah Many Horses’ Tagebuch zu holen«, sagte sie leise. »Und ich muss immerzu denken, dass er zurückkommen wird und dann eine dieser ekelhaften Zeichnungen an meiner Tür hängt.«
    Gallagher verschluckte sich an dem Orangensaft, den er gerade trinken wollte. Er sah sie an und hatte ein mulmiges Gefühl im Magen.
    »Du bist sicher«, sagte er. »Wir sind sicher.«
    »Für den Augenblick.«
    Eine Elster landete auf dem Fensterbrett und nickte mit dem Kopf, bevor sie wieder davonflog. Unten im Ofen knackte ein brennendes Scheit. Schließlich sagte sie: »Irgendwoher wusste Charun ja, dass ich einen Teil des Tagebuchs hatte. Er muss auch herausbekommen haben, wer die anderen Teile besitzt.«
    »Wie?«
    »Das weiß ich nicht, doch wenn er es kann, dann können wir es auch«, antwortete Andie.
    »Wo wollen wir also anfangen?«
    »Ich hab keine Ahnung!«, rief Andie. Sie warf die Arme in die Höhe. »Meine Mutter hat mir nie erzählt, wo die anderen Tagebuchteile sind, und es ist nicht gerade das, was man als Anzeige in die Zeitung setzen könnte: ›Vorsicht, Einwohner von Vermont. Sie können das nächste Opfer eines Serienmörders werden, wenn Sie im Besitz des Tagebuchs einer Sioux-Frau sind, die nur in der Phantasie einer heruntergekommenen, abhängigen Polizistin existiert.‹«
    »Schlag nicht auf dich selbst ein«, schalt Gallagher. »Das führt zu nichts Gutem.«
    »Was weißt du denn davon?«, fragte sie in scharfem Ton. »Hast du jemals solche Gedanken gehabt, die immer wiederkehren und jedes Mal quälender werden? Hast du je das Gefühl gehabt, sie nur mit einem Schluck zum Schweigen bringen zu können?«
    Gallagher wurde plötzlich wütend auf sie. »Nein«, rief er. »Aber ich habe erlebt, was passiert, wenn man versucht, die Stimmen mit der Flasche zum Schweigen zu bringen … und du

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