Mystic
knochigen Finger an der Unterlippe. »Aus anthropologischer und aus historischer Sicht würde ich meinen, dass ein von einer Lakota-Indianerin in Englisch geschriebenes Tagebuch aus dem neunzehnten Jahrhundert überaus wertvoll wäre, vor allem, wenn es sich um eine Überlebende des Massakers am Wounded Knee handelte, die uns schildert, wie sie den Geistertanz tanzte.«
»Warum?«, fragte Gallagher.
»Weil die Einzelheiten des authentischen Geistertanzes jener Zeit wie ein strenges Geheimnis gehütet wurden«, erklärte Barrett. »Es gibt Beschreibungen von Weißen, die von weitem zugesehen haben. Aber wir haben kein persönliches Zeugnis, kein ›So-wird-es-gemacht‹ von der Spitze der Bewegung.«
Gallagher zog die Augenbrauen hoch. »Gibt es denn aber nicht auch heute noch Angehörige indianischer Stämme, die das Ritual in den Reservaten im Westen praktizieren?«
Barrett nickte. »Ja, schon, aber dieser Geistertanz ist eine moderne Interpretation des Ritus. Man könnte sagen, dass die Zeremonie, so wie sie in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts noch praktiziert wurde, am Wounded Knee weitgehend ausgelöscht wurde. Ich will also damit sagen, dass der Wert des Tagebuchs – der geistige und der materielle – von der Person abhängt, die es schrieb, und von dem, was sie schrieb.«
»Wir können Ihnen ja erzählen, was wir gelesen haben«, bot Andie an.
Barrett saß vornübergebeugt, die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch gestützt, das Kinn in die Hände gelegt, während sie ihm alles berichteten, was ihnen aus den beiden Tagebuchteilen noch in Erinnerung war.
»Wenn das eine Fälschung ist, dann ist es eine sehr gekonnte«, meinte der Professor, als sie geendet hatten. »Manches von dem, was Sie beschreiben – die Haarlocke zum Beispiel und die Steine –, hat nichts mit dem Geistertanz zu tun, ist aber tief verwurzelt in anderen religiösen Praktiken der Sioux. Die Steine sind heilige Symbole, die die Schamanen bei den verschiedenen Zeremonien benutzen, die das spirituelle Leben der Lakota bis auf den heutigen Tag ausmachen. Das Haar ist besonders mit einer Zeremonie verbunden, die ›Die Befreiung der Seele‹ genannt wird.
Wenn Many Horses sagt, dass ihr Haar sie befreien kann, dann meint sie wahrscheinlich diesen Ritus, der tatsächlich ungefähr um die gleiche Zeit verboten wurde, als man den Geistertanz untersagte«, fuhr Barrett fort. »In der Lakota-Gesellschaft wurde nach dem Tod dem Verstorbenen eine Haarlocke abgeschnitten und in Süßgrasrauch gereinigt, dann in Hirschleder gewickelt und an einem besonderen Platz im Haus eines Verwandten des Toten aufbewahrt. Man glaubte, dass die Seele in dem Haar lebte und mindestens ein Jahr lang dort aufgehoben werden musste, bevor sie befreit werden konnte. Während dieser Zeit brachte die Familie das für das Ritual Notwendige zusammen – unter anderem einen Umhang aus Büffelfell –, und dann gab es eine große Feier, bei der die Seele freigelassen wurde, um in das Leben im Jenseits einzugehen.«
»Glauben alle Sioux daran?«, fragte Andie.
»Nicht so dogmatisch, wie ein Katholik oder ein Jude glauben würde«, räumte Barrett ein. »Die Religion der Sioux ist eine charismatische Religion und wird von Generation zu Generation weitergegeben und von jeder Generation neu interpretiert. Deswegen wissen wir auch nicht genau, wie der Geistertanz einmal ausgesehen hat. Jeder oder jede nachfolgende Sioux erfindet in gewissem Sinne seine oder ihre eigene Religion, die auf den spirituellen Traditionen derer beruht, die vor ihnen waren. Was nichts anderes bedeutet, als dass ein bestimmter Sioux an eine Zeremonie wie die Befreiung der Seele glauben kann oder nicht. Wenn er oder sie aber daran glaubt, dann geschieht das mit Leidenschaft.«
Gallagher fragte: »Weshalb hat die Regierung eigentlich damals die Zeremonie der Seelenbefreiung und den Geistertanz verboten?«
»Man muss verstehen, wie die Menschen vor hundert Jahren gedacht haben, um –«
Barrett unterbrach sich selbst mitten im Satz, wandte sich seinem Computer zu und begann, etwas hineinzutippen. Jetzt hörte man das Geräusch eines Modems und dann ein Biepen, als der Computer die Verbindung herstellte. Er tippte eine Reihe von Codes, die von den Worten »Mooney/Tinmouth« gefolgt waren, und drückte »Enter«. Gleich darauf erschien auf dem Bildschirm folgender Text:
TINMOUTH-KORRESPONDENZ IM ZUSAMMENHANG MIT DER UNTERSUCHUNG DER ARMEE ÜBER DIE SCHLACHT AM WOUNDED KNEE UND DEM
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