Mystik des Herzens
Schönheit und Klarheit, dass ich leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht«. 48
Aber auch die durch den Menschen gestörte Schöpfung soll nach Hildegard zuletzt wieder in ihre volle Schönheit gelangen: »Wenn dies alles geschehen ist, dann werden die Elemente in höchster Herrlichkeit und Schönheit aufleuchten. Alle Hüllen der Schwärze und des Schmutzes sind von ihnen genommen«. 49 Es dürfte sich gewiss auch um eine weibliche Komponente in Hildegards Spiritualität handeln, wenn sie es unentbehrlich findet, auch die schöne Kleidung und den edlen Schmuck ihrer visionären Gestalten immer wieder genau zu beschreiben. Kleidungist für sie nicht etwas Äußerliches, sondern Ausdruck der Seele, der inneren Ausstrahlung und deren Gestaltung. So vermutet sie, dass selbst die Verstorbenen sich manchmal zurücksehnen nach ihrem Sein im Körper, nach »ihrem geliebten Kleid«. Das sagt diese Frau in die Jenseitssehnsucht des Mittelalters hinein!
So schaut und schildert sie selbst die göttlichen Gestalten, die ihr erscheinen, vom Kopf bis zu den Füßen in all ihrer Schönheit:
»Ihr Gesicht leuchtete wie die Sonne, ihre Kleider glänzten wie Purpur; um den Hals trug sie ein goldenes Band, mit köstlichen Edelsteinen geschmückt. Sie hatte Schuhe an, die Blitzesleuchten ausstrahlten«. 50
Kein Wunder, dass Hildegard bei dieser Einstellung zur Schönheit auch ihre Mitschwestern an den hohen christlichen Festen nicht in Sack und Asche sehen wollte: Sie gingen geschmückt zum Gottesdienst, mit offenem Haar, bekränzt und in farbigen Schleiern. Eine Idee Hildegards, die ihr von einer etwas säuerlichen Nachbaräbtissin im noch erhaltenen Briefwechsel 51 stark angekreidet wurde. Hildegard aber fand, dass die Bräute Christi bei der Begegnung mit ihrem Bräutigam nicht in Sack und Asche gehen könnten.
Hildegards Spiritualität ist nicht autistisch und nicht narzisstisch, ist nicht Selbstgenuss wie bei mancher späteren Mystikerin, sondern immer bezogen. Ihre Spiritualität hat eine therapeutische Komponente. Ihr spirituelles Wissen ist engstens mit einem Heilungswissen verbunden, das sie dem leidenden Menschen zuwendet. Ein bedeutender Teil ihrer Schriften ist therapeutischen Themen gewidmet. Ihr bedeutendstes therapeutisches Thema aber scheint mir das von der göttlichen Grünkraft, der nobilissima viriditas zu sein, die alles durchwirkt und alles verbindet, wie sich in der Farbenergie des Grün bereits die Lichtkraft des Himmels, das Goldgelb der Sonne, mit der Tiefe des Irdischen,dem Blau des Wassers, verbindet. Heilung besteht bei Hildegard im Wiederanschluss des abgesonderten Menschen an seine göttliche Quelle, das Grün. So gelang ihr, wie schon beschrieben, die Heilung einer psychotischen Frau im Ostergottesdienst, wo diese Frau mit dem Osterwasser und dem Osterfeuer in Berührung kam und dazu in eine lebendige, mittragende Gemeinschaft, ihre Schwesternschaft, eingebettet war. Dies ist ein Vorgang, der auch nach heutigen therapeutischen Erkenntnissen der Heilung einer Psychotikerin zuträglich gewesen sein kann. 52
Das Therapeutikum ist für Hildegard der Wiederanschluss des Menschen an eine Menschengemeinschaft mit ihrer Kommunikationskraft. Das Therapeutische besteht in der Wiederverbindung eines jeden, einer jeden mit seiner eigenen Spiritualität und damit der Ermöglichung transpersonaler Erfahrung, dem Zugang zur Quelle der Grünkraft.
Der diesen Quellen geöffnete und hingegebene Mensch findet zugleich Anschluss an die für Hildegard im Bild einer »mater medicinae« erscheinende » virgo viridissima« , der allergrünsten Jungfrau Maria.
Hildegards Spiritualität enthält Eros, entspringt letztlich ihrer Erfahrung mit dem göttlichen Liebesfeuer, das alles durchwaltet:
»Von der Tiefe
bis hoch zu den Sternen
durchflutet Liebe das All«,
so dichtet und singt sie in einer ihrer Hymnen. 53
Ihr spiritueller Eros erschöpft sich nicht in einer persönlichen Liebesmystik mit Jesus, wie es in der späteren Frauenmystik des Mittelalters oft der Fall war und wie es oft als ein Charakteristikum von Frauenmystik überhaupt gesehen wurde. Hildegards Mystik und ihr spirituellerEros umfasst in einer überpersönlichen Weise die ganze Schöpfung, von der Heilpflanze bis zum Tier, vom Mitmenschen bis zu den Mitgestirnen. Ihr Eros geht nicht einfach nur zu Gott, zum Göttlichen hin, sondern sie liebt gemeinsam mit Gott, liebt die Schöpfung, geht wie Gottes Liebe zur Schöpfung und
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