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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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zum Geschöpf zurück.
    Deshalb umfasst Hildegards Spiritualität auch die Gesellschaft und die Politik.
    Hildegard nimmt, unter Rückbezug auf ihre Schau, auch Einfluss auf kirchenpolitische und staatspolitische Vorgänge ihrer Zeit, zum Beispiel während des gewissensverwirrenden Investiturstreits, bei dem Kaiser Friedrich Barbarossa im Machtkampf mit dem Papsttum mehrere Gegenpäpste einsetzt: In mehreren Briefen und vermutlich auch persönlichen Treffen redet sie ihm ins Gewissen. 54 Sie nimmt in öffentlichen Reden Stellung zu kirchenpolitischen Missständen und ficht noch gegen Ende ihres Lebens unter Inkaufnahme großer persönlicher Nachteile eine kirchenrechtliche Streitsache 55 durch, damit ein ehedem unter Kirchenbann stehender, aber in der Sterbestunde nach der Beichte losgesprochener Sünder in geweihter Erden ruhen dürfe, was immer er zuvor getan habe. Wie immer man heute zu ihren kirchenpolitischen Entscheidungen von damals im einzelnen stehen mag, charakteristisch für Hildegards weibliche Spiritualität scheint es gewesen zu sein, dass sie die Einmischung in politische Vorgänge nicht aus-, sondern einschloss, als Mitwirkung an der Entwicklung von Gottes Welt.
    Im Alterswerk, dem liber divinorum operum , dem Buch der göttlichen Werke, entfaltet sich ihre weibliche Spiritualität auf besonders anschauliche Weise, wenn wir das weibliche Prinzip ihrer Spiritualität in dem Verbundenheitsprinzip, in dem Prinzip kosmischer Nachbarschaft alles Lebendigen sehen. Hildegards lebenslange Erfahrung mit Schwesterlichkeit innerhalb einer Frauengemeinschaftmag dem einen empirischen Hintergrund gegeben haben. In der Rückbindung der unverheirateten, jungfräulichen Frau, der »Gottesbraut«, an Gott, wie es die Nonne verkörpert, lag für sie – für die auch Geschlechtlichkeit und Ehe einen hohen Stellenwert hatte – doch auch ein grundsätzliches Befreiungsprinzip für die Frau, ein Modell gleichsam auch für die Verheiratete, dass nämlich die Frau ihre Identität nicht letztlich als eine vom Mann und dessen Zuwendung abgeleitete verstehen müsse, sondern dass sie eine eigene, quasi gottunmittelbare Identität habe, als freie Frau. Darin liegt eine wichtige Komponente von Hildegards weiblicher Spiritualität, eine emanzipatorische Komponente.
    Hildegards Kosmosschrift schenkt uns zugleich ein wunderbares weibliches Bild des Göttlichen wieder, das zwar seit den späten Schriften des Alten Testaments, der Hebräischen Bibel, bekannt (Sprüche 8, 22–31; Weisheit Salomos 7; Jesus Sirach 24), aber in der westlichen Christenheit, anders als in der östlichen bis dahin wenig beachtet und konkretisiert worden war: das Bild der Sophia, der Weisheit.
    In Hildegards letzter Vision, die sie in ihrer Kosmosschrift schildert, erscheint Sophia, wie schon beschrieben, als die alles erfüllende Mitte des Weltenkreises, eine wunderschöne Frauengestalt, angetan mit einem purpurnen Seidenmantel, über weißem Seidenkleid getragen (in der vorletzten Vision und auch in der Buchmalerei zur letzten erscheint dieser Mantel in Grün, Hildegards edelster und heilsamster Farbe). Das Purpur ist die symbolische Farbe für den tiefsten Liebesklang, und es entspricht Hildegards letzter Schau, in der die göttliche Weisheit und die göttliche Liebe eins sind. Weisheit ist für Hildegard die weibliche Kraft, die die Schöpfung in Liebe zusammenhält, die das liebevolle Zusammenwirken aller in allem begründet. Sophia, Weisheit, ist für Hildegard die Partnerin Gottes,seine Shakti, wie man in Indien sagen würde, seine Entsprechung also, seine Geliebte. Die zugehörige Buchmalerei, vielleicht von einer Frau gemalt, zeigt Sophia mit lauschendem Ohr und weit geöffneten Augen, wie sie sich aus der Mitte des Universums dem Betrachter zuwendet: zwei unbeschriebene Tafeln in der Hand, wie ein neuer weiblicher Moses, der wohl ein neues ungeschriebenes Lebensgesetz verkündet. 56
    Wenn diese Gestalt in der Christenheit damals Fuß gefasst hätte und in unserer Spiritualität heute Fuß fassen könnte, so hätte dies, wie ich meine, weitreichende Konsequenzen für unser Weltbild, unser Frauenbild und nicht zuletzt für unser Gottesbild.
    Der Schlussvers einer Hymne Hildegards, einer Anrufung der heilenden Kraft des Geistes, kann zuletzt noch einmal verdeutlichen, aus welchem Geist sie schaut und lehrt:

    »Du auch führest den Geist,
    der deine Lehre trinkt,
    ins Weite.
    Wehest Weisheit in ihn,
    und mit der Weisheit die Freude.« 57

Zweites

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