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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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da Sehnsucht tragen.
    Ein Wind sei er, indem er den Elenden hilft.
    Ein Tau, indem er die Verlassenen tröstet.
    Und Regenluft sei er, indem er die Ermatteten aufrichtet und sie erfüllt wie Hungernde,
    indem er ihnen seine Seele hingibt.« 34

    Ein wunderbares Wort ist dies für alle Menschen, die in heilenden Bezügen oder gar Berufen stehen. Die Seele, die sich den Mitmenschen und Mitgeschöpfen hingibt, ist also wie ein Wind, der aufrichtend über die Kräuter weht. Das hat man vor Hildegard noch nie gehört. Und darin spüren wir die ganze Hildegard in ihrem weiträumigen und liebevollen Geist. Seele, Wind und Tau sind ihr keine für sich bestehenden Wesenheiten, sondern alles ist zur Korrespondenz miteinander geschaffen. Am Wind und am Tau liest sie ab, wie die Wesen und die Kräfte miteinander korrespondieren und wie es auch unsere Seele mit allem Lebendigen tut. Die Seele ist dazu da, um wie der Tau Leben aufzurichten.
    Hildegard begreift den ganzen Kosmos, Wind, Tau und Regenluft, Kräuter und Gräser, alles durchwirkt von göttlichem Atem, oder mit jenem polaren Bild, das ihr nicht weniger wichtig ist: »durchpulst von lebendigem Grün«. Alles ist aufeinander bezogen, alles stiftet Beziehung und ruft den Menschen zur Bezogenheit auf. So ist es nur natürlich, dass Hildegard zugleich eine große Heilende war. Sie war es wohl vor allem als Seelsorgerin, wobei Seele so zu verstehen ist wie hier: als »der Wind, der über die Kräuter weht«.Hildegard hat eine Hymne über die heilende Kraft gedichtet und vertont:

    »O heilende Kraft, die sich Bahn bricht!
    Alles durchdringst du,
    die Höhen, die Tiefen,
    und jeglichen Abgrund.
    Du bauest und bildest alles.

    Durch dich träufeln die Wolken,
    regt ihre Schwingen die Luft.
    Durch dich birgt Wasser das harte Gestein,
    rinnen die Bäche
    und quillt aus der Erde das frische Grün.

    Du auch führst den Geist,
    der deine Lehre trinkt,
    ins Weite,
    wehest Weisheit in ihn
    und mit der Weisheit die Freude.« 35

    Wichtige Aufschlüsse über die Art ihrer Visionsgabe gibt noch einmal ein Brief, den Hildegard in hohem Alter schrieb, als Antwort auf die dringende Bitte des Mönches Wibert von Gembloux um Erläuterung ihrer Erfahrungen. Dieser hat sich dann auch angeboten – tief berührt von Hildegard, wie er war –, ihr als Schreibsekretär beizustehen. Nach dem Tode Volmars war Hildegard in dieser Hinsicht verwaist und verlassen: denn die Schreibkunst war damals an eine besondere Fertigkeit und Kompetenz gebunden. Vor allem die Fähigkeit zur Übertragung der ersten Notizen von Wachstäfelchen auf die Pergamente, die offiziell für die Öffentlichkeit bestimmt waren, erforderte eine eigene Ausbildung. Obwohl Wibert mit seiner Frage nach ihrer Visionsgabe Hildegard eigentlich ein wenig zu nahe getreten war, hat sie ihm geantwortet, und wirverdanken diesem Brief noch tiefere Einsichten in ihre Erfahrungen:

    »Von meiner Kindheit an, als meine Gebeine, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, erfreue ich mich der Gabe dieser Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, wo ich doch schon mehr als siebzig Jahre alt bin. Und meine Seele steigt, wie Gott will, in dieser Schau empor bis in die Höhe des Firmamentes. Ich sehe aber diese Dinge nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren,. Auch nehme sie nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr, noch durch irgendeine Vermittlung meiner fünf Sinne. Ich sehe sie vielmehr einzig in meiner Seele mit offenen leiblichen Augen, so dass ich dabei niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag und bei Nacht. Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an ihm zu erkennen. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf.« 36

    Da ist ein Licht, das ihr den Durchblick gibt, auch während sie liest und während sie Menschen beobachtet. Sie sieht, was geschieht, und versteht es intuitiv. Es geht ihr ein Licht auf. Zugleich stellt sie sich den Vorgang des Sehens auf eine lichte Scheibe projiziert vor, auf der alles bildhaft erscheint, was sie innerlich schaut. Hildegard scheint die Gabe gehabt zu haben, jederzeit bei offenen Augen diesen Lichtschimmer zu sehen. Auffallend ist, dass sie in diesem Licht nicht nur Bildhaftes sieht, sondern

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