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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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überwinden sucht, ich denke dabei an die zen-buddhistische Spiritualität, aber auch diejenige Meister Eckarts. So verdanken wir ihrer imaginativvisionär gewonnenen theologischen Erkenntnis vor allem neue Bilder und Symbole, ein neues Menschen- und Weltbild, aber auch ein neues, um die weiblichen Nuancen ergänztes Gottesbild. Hildegards theologisches Denken ist dem gemäß niemals lehrhaft-abstrakt, sondern immer beschreibend-konkret, bildhaft. Es ist intuitiv, assoziativ und verleugnet seinen imaginativen Ursprung nie.
    Hildegards Spiritualität gründet und vermittelt sich zugleich in auditiven Erfahrungen, Hörerfahrungen von Wort, Klang und Musik. Sie hört »das Licht« sprechen; hört die Elemente der Welt, Feuer, Luft, Wasser und Erde, vor Gott klagen und den Menschen anklagen, dass der Mensch sie verunreinigt und aus ihren schöpfungsgemäßen Bahnen geworfen habe: »Wir, die Elemente, die Lüfte, die Wasser, wir stinken schon wie die Pest, wir vergehen vor Hunger nach einem gerechten Ausgleich«. 43 Sie hört aber auch das Universum tönen in der nicht irritierbaren Musik der Sphären und der Engel. Hildegards Spiritualität ist eine zutiefst musikalische, aus innerem Hören geschöpfte, diesich in Gedicht und Lied ausdrückt, auch in dem »Spiel der Kräfte«, der »Ordo virtutum« , dem ersten deutschen Singspiel überhaupt, in dem es um das Ringen der ›Gotteskräfte und deren Gegenkräfte um die Seele des Menschen geht. 44
    Ein alles durchwirkender Zug in Hildegards Spiritualität, der mir nun allerdings als ein eminent weiblicher erscheint, ist der zu einer verbindenden und vernetzenden Schau aller Kräfte und Gegenkräfte, die das Universum in dialektischer Spannung zusammenhalten und denen der Mensch ausgesetzt ist, passiv und aktiv, als Miterleidender, aber auch berufen zu verantwortlicher schöpferischer Mitgestaltung. Dieser Weltschau Hildegards widerspricht nichts tiefer als der zeitgenössische Dualismus der Katharer, die Gott und Welt – wie zuvor schon Seele und Leib – als unvereinbar auseinanderreißen und die Welt als widergöttlich und verdorben preisgeben, nicht mehr bereit, auch nur ein einziges weiteres Kind in diese Welt zu setzen, nicht mehr bereit, zu zeugen und zu gebären. Hildegard hingegen, obgleich Nonne und Äbtissin eines Benediktinerinnen-Konvents, bejaht mit der Schöpfung auch Sexualität, Zeugung und Geburt und sieht die Menschheit samt dem Kosmos in einem großen Prozess des Werdens, der spirituellen und substantiellen Weiterentwicklung, der alle Glieder »seines schönen Leibes«, des Leibes Gottes also, umfasst. In einigen ihrer großartigsten und neuartigsten visionären Bilder schaut sie das Universum als einen einzigen gewaltigen Organismus, als den »Leib Gottes«, im Rahmen der christlichen Lehre eine kühne Vorstellung! 45
    Hildegard kennt Gottes Liebesfeuer als kosmische Kraft, aber sie kennt auch Gottes »Dunkelfeuer« 46 . Das dem menschlichen Erleben und der menschlichen Perspektive Dunkle fällt nach Hildegard nicht aus Gottes allumfassenden Energiefeld heraus, kann nicht herausfallen, da es von einem größeren Kraftfeld umspannt und getragen ist. Dieser kosmischen Verbundenheit aller Kräfte entsprichtnach Hildegards Schau auch die Stellung des Menschen im Universum: Alle Kräfte in ihm und um ihn herum, auch die zunächst widerständigen und widerstrebenden, rufen ihn zur verantwortlichen Verbindung mit ihnen auf.
    Ein weiteres noch: In Hildegards Spiritualität spielt »Schönheit« eine große Rolle. Sie unterscheidet sich von solchen Formen der Spiritualität, die sich mit dem Entstellten, dem Leiden, dem Hässlichen identifizieren und davon faszinieren lassen, wie es so manche spirituelle Strömung der späten Gotik tut mit ihren extrem entstellenden Darstellungen des leidenden und gekreuzigten Christus (auf den Passionswegen und in den Kruzifixen).
    Für Hildegard und ihre Spiritualität dagegen ist Schönheit eine Erscheinungsweise und Offenbarungsweise des Göttlichen. So spricht denn Frau Weisheit, die Sophia, in einer von Hildegards Visionen über sich selbst: »Ich werde mich in schöner Gestalt zeigen, glänzend wie Silber; denn die Gottheit, die ohne Anbeginn ist, strahlt in großer Herrlichkeit«. 47
    Hildegards Kosmosschrift, das Spätwerk der Siebzigjährigen, beginnt mit folgender Vision: »Und ich schaute … inmitten der südlichen Lüfte ein wunderschönes Bild. Es hatte die Gestalt eines Menschen. Sein Antlitz war von solcher

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