Mystik des Herzens
Kapitel: Mystik der Liebe zum »Fern-Nahen« – Marguerite Porète (1255–1310)
Zweites Kapitel
Mystik der Liebe zum »Fern-Nahen«
Marguerite Porète (1255–1310)
Der »hinreißend Fern-Nahe«, französisch »le ravissant loin-près«, ist einer der schönsten Namen, den die Lyrik der Troubadoure dem Geliebten, der Geliebten gegeben hat. Ähnlich ist der Name, den die analytische Psychologie C.G. Jungs dem Animus-Archetyp des innerlich Geliebten gibt, 1 der die Seele zu ihrem innersten Selbst, ja zu Gott führen kann. Dort spricht man auch von dem »faszinierend geheimnisvollen Fremden«. Der »hinreißend Fern-Nahe« 2 ist das Gegenüber der Frau, die einen Jahrhunderte lang anonym überlieferten Text, ein Lehrbuch für Mystiker und Mystikerinnen gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts geschrieben hat: den »Spiegel der einfachen Seelen« 3 . »Le loin-près« 4 , der Fern-Nahe, ist ein Name für Gott., den man, ehe Marguerite Porète ihn aussprach, noch nie gehört hatte und den auch wir nun vielleicht zum ersten Mal hören. Ich horchte auf, als ich ihn vernahm.
Die Frau, die diesen Text geschrieben hat, ist eine Begine aus dem Hennegau im Nordosten Frankreichs, Marguerite Porète. 5 Sie schrieb nicht in Latein, sondern schrieb wie alle Beginen in der Volkssprache und zwar in einem mittelalterlichen Französisch, so wie es damals gesprochen wurde. In der Volkssprache zu schreiben war für die damalige Zeit ungewohnt.
Sie lebte von 1255 bis 1310, ist demnach 55 Jahre alt geworden, ehe sie einen Tod starb, von dem noch die Rede sein wird. »Der Spiegel der einfachen Seelen«, wie sie ihrBuch nennt, richtet sich an jene, wie der Wortlaut des Titels schon sagt, »die einzig im Wollen und Verlangen der Liebe verweilen«. 6
Es ist ein »Spiegel«, der den Weg der Seele in die Liebe hinein reflektiert, den Aufstieg aus dem »Tal der Demut« (ein Tal ist sie also) über die »Ebene der Wahrheit« (die sie als Ebene versteht) bis empor auf den »Berg der Liebe«, was die Vereinigung mit Gott, eine Liebeshingabe bedeutet. 7 Dies wäre eine Gipfelerfahrung, eine top-experience, wie man es heute nennt. Marguerite Porète schreibt:
»Jetzt möchte ich euch weiter sagen, wer das ist, der auf dem Berge wohnt über den Winden und über den Regengüssen. Das sind jene, die auf Erden weder Schmach noch Ehre noch Furcht kennen, was auch immer ihnen zustößt. ›Solche Leute‹, spricht die Liebe, ›befinden sich in Sicherheit, und ihre Türen stehen offen.‹« 8
Solche Menschen, von denen sie hier spricht, kennen keine Angst, brauchen keine Verriegelung und keinen Schutz, denn sie sind innerlich geborgen. Von solchen Menschen spricht das Buch. Spiegel, »miroir«, bedeutet hier nicht nur Wiederspiegelung und Reflexion eines Lebens in Liebe, sondern ist zugleich auch eine Anleitung zur Liebe, was für Marguerite Porète ein Einfachwerden, ein Freiwerden bedeutet, ein Freisein von allem Anhaften an Besitz, Geltung und Macht. Damit wird es brisant, denn es geht um die Liebe zu Gott und das hieße dann auch: Freiwerden von allem Bescheidwissen über Gott, von allem Gott-besitzen-Wollen. Und mit dem Folgenden wird es noch brisanter, jedenfalls für einen Menschen der damaligen Zeit: Dieses Freiwerden heißt nämlich auch Befreiung vom Unterworfensein unter die Tugenden, die Moral, die guten Werke, die in der mittelalterlichen Frömmigkeit eine große Rolle spielen. 9 Die einzigeLebensgewissheit wird hier in der Liebe gefunden, die alles hinter sich lässt.
Dorothee Sölle, die Marguerite Porète auch für protestantische Leser wiederentdeckt hat, schreibt in ihrem Mystik-Buch über Marguerites »Spiegel der einfachen Seelen«: »Das Buch verbindet Erotik und eine Art von fröhlichem Nihilismus um Gottes willen in einzigartiger Weise«. 10 Fröhlicher Nihilismus um Gottes willen: Auch mich fasziniert dieser Ausdruck, weil ich tief davon überzeugt bin, dass das Wissenwollen und gar das zuviel Wissenwollen über Gott einer echten Begegnung mit Göttlichen im Wege steht, mehr als alles andere. »Wie aufmerksam war diese Frau, die Liebe zu empfangen, die verbrennt ihr eigenes Herz und das all derer, die ihr zuhörten« 11 , so schrieb um Jahrhunderte später Margarete De Navarra, die Schwester des französischen Königs, über die zu der Zeit noch unbekannte Verfasserin. Weshalb sie so lange Zeit unbekannt blieb, werde ich noch berichten. Auch heute wissen wir noch nicht viel über die Verfasserin des »Spiegel der
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