Mythica 06 - Goettin des Sieges
Deine Kriegslust wird dein Leben zerstören. Frieden, Liebe und Ruhe wirst du als flüchtige Augenblicke erleben und nie wirklich kennenlernen.« Bevor Thetis die Augen öffnete, machte sie sich innerlich auf das gefasst, was sie im Gesicht ihres Sohns sehen würde.
Achilles strahlte. Thetis hatte es gewusst, sobald sie die Worte des Orakels gehört hatte, aber dennoch hatte sie sich bis zu diesem Moment eine kleine Hoffnung bewahrt. Jetzt erlosch diese wie eine ausgeblasene Kerze.
»Du musst wählen, mein Sohn, aber lass dir Zeit. Wäge die Vor- und Nachteile sorgfältig ab. Denk daran, dass du deine Entscheidung niemals zurücknehmen kannst – sobald du sie getroffen hast, wird Zeus dein Schicksal besiegeln.«
Achilles’ Lächeln war jungenhaft. »Ich weiß schon, wie ich mich entscheide, Mutter!« Er hob die Arme, legte seinen Kopf in den Nacken und schrie seinen Entschluss als wildes Gebet an die Götter in den Himmel hinauf. »Allmächtiger Zeus, ich danke Euch für die Möglichkeiten, die Ihr mir gegeben habt. Ich wähle das Leben eines Kriegers und ewigen Ruhm!«
In diesem Moment wurde die Luft von einem gewaltigen Donnerschlag zerrissen. Ein greller Blitz schoss vom Himmel und schlug in Achilles’ Körper, zwang den Jungen in die Knie und füllte ihn mit einer mächtigen, rohen Kraft, die im Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht veränderte und seine weichen Züge verhärtete. Er schien tatsächlich zu wachsen, wurde größer und breiter, wurde irgendwie mehr von all dem, was er immer schon gewesen war. Seine Augen glühten bräunlich wie getrocknetes Blut, und seine Lippen öffneten sich zu einem animalischen Zähnefletschen, als er seine Entscheidung erneut in den Himmel hinaufschrie, mit einer Stimme, die seine Mutter kaum wiedererkannte: »Ich wähle das Leben eines Kriegers und ewigen Ruhm!«
Tränen rannen über Thetis’ Wangen, während sie zuschaute, wie ihr Sohn sich für ein entsetzlich kurzes Leben entschied. Er sah aus wie ein strahlend goldener Gott, ihr geliebter Jungadler. Stolz, schön, wild und unsterblich.
Doch er war nicht unsterblich. Er würde schon viel zu bald den Tod finden. Und sie würde hilflos mitansehen müssen, wie er aufloderte und verbrannte.
Mit gesenktem Kopf sandte Thetis ihr eigenes Gebet in den Olymp – sie schrie die Worte nicht, sondern sprach sie mit der stillen Macht des gebrochenen Herzens einer liebenden Mutter.
»Hera, Göttin aller Mütter, erbarmt Euch meiner. Wenn es Euch möglich ist, dann lasst meinen Sohn Liebe und Frieden kennenlernen, bevor er stirbt. Athene, Göttin der Krieges und der Weisheit, ich bitte Euch mit meiner unsterblichen Seele, dass Ihr Achilles die Weisheit gebt, seine jugendliche Torheit zu überleben …«
Erneut erzitterte der klare griechische Himmel unter einem gewaltigen Donnerschlag, und Achilles lachte mit wilder Freude, ohne den Pfau zu bemerken, der plötzlich neben seiner Mutter erschien. Der Vogel streckte seinen langen, majestätischen Hals und legte seinen saphirblauen Kopf ans Bein der Meeresgöttin. Auf ihrer anderen Seite erschien eine wunderschöne Eule, ätherisch in ihrem weißen Federkleid. Die weisen Augen der Eule begegneten ihrem Blick, und sie neigte hoheitsvoll den Kopf vor Thetis, bevor beide Vögel in einem Wirbel von Diamantenstaub verschwanden.
Dreizehn Jahre später, auf dem Olymp
»Ich muss Euch gestehen, meine Lieben, dass dieser Trojanische Krieg mich in den Wahnsinn treibt.« Venus seufzte und warf Athene einen vielsagenden Blick zu.
»Warum seht Ihr mich so an?«, fragte Athene gereizt.
»Athene, meine Freundin, das könnte etwas damit zu tun haben, dass Ihr die Göttin des Krieges seid«, erwiderte Hera.
»Und außerdem seid Ihr geradezu besessen davon, für Odysseus’ Sicherheit zu sorgen, was die Lage in Troja nicht unbedingt verbessert«, fügte Venus hinzu. Dann hob sie ihren leeren Kelch und rief: »Ich brauche mehr Ambrosia!« Sofort kam ein Satyr herbeigaloppiert und schenkte ihr aus einem glitzernden Krug von dem goldenen Götterwein nach. Venus warf dem sehr männlichen, sehr enthusiastischen Wesen eine Kusshand zu, und der Satyr sonnte sich in ihrer Aufmerksamkeit, verneigte sich tief vor der Göttin und küsste ihre Füße, bevor er widerwillig aus dem Saal trottete.
»Ihr verwöhnt diese Kreaturen.« Athene sah dem Satyr mit einem Stirnrunzeln nach. »Und wie Ihr Euch vielleicht erinnert, wart Ihr diejenige, die Odysseus’ Zuneigung zu mir überhaupt erst entfacht hat.«
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