Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
so ehrfurchteinflößend, dass sie weiche Knie bekam. Ganz automatisch wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken ans Balkongeländer stieß. »Medeas Hekate?«, stieß sie heiser hervor, kaum lauter als ein Flüstern.
»Ja, ich bin Medeas Göttin.« Hekates Stimme klang hart und schroff. »Wenn du wie eine typisch schwächliche Frau in Ohnmacht fällst, werde ich sehr enttäuscht von dir sein, Mikado.«
»Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen«, platzte Mikki mit der ersten Erwiderung heraus, die ihr in den Sinn kam.
»Dann fang jetzt auch lieber nicht damit an«, entgegnete die Göttin.
Mikki konnte nur nicken.
Hekate musterte sie wortlos. Ihr strenges Gesicht war undurchschaubar, und unter dem stechenden Blick ihrer grauen Augen spürte Mikki auf einmal den kindischen Drang, die Hände zu ringen und nervös herumzuzappeln, aber sie presste die Arme fest an ihre Seiten und stand vollkommen reglos da.
»Ich bin nicht nur Medeas Göttin«, brach Hekate das Schweigen schließlich, »ich bin die Göttin der Bestien, der Magie und des Schwarzen Mondes. Ich herrsche über die dunkle Nacht, über Träume und den Scheideweg zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten.« Die Göttin strahlte eine unglaubliche Autorität aus, und Mikki glaubte, ihre machtvollen Worte zu spüren, als glitten hungrige Schlangen über ihre Haut. Dann senkte Hekate die Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern, und Mikki musste sich zusammenreißen, um nicht erneut vor ihr zurückzuweichen. »Ich kannte deine Mutter, Mikado, und auch ihre Mutter vor ihr, und deren Mutter … über Generationen habe ich auf die Frauen deiner Familie aufgepasst. Selbst als sie mich so gut wie vergessen hatten, habe ich weiter über sie gewacht.«
»Meine Mutter!«, rief Mikki ungläubig. »Und meine Großmutter! Wie ist das möglich? Ich verstehe das nicht.«
Fast unmerklich wurden die Züge der Göttin weicher. »Hast du dich nie gefragt, woher du deine Gaben hast, Mikado?«
»Meine Gaben?«
»Ja! Denk nach!«, fuhr die Göttin sie an. Die Hunde zu ihren Füßen knurrten. »Steh nicht so dumm da wie ein Mann, der nur mit dem Ding zwischen seinen Beinen denken kann. Erkenne deine Gaben an, Empousa!«
»Mein Blut lässt Rosen wachsen«, antwortete Mikki automatisch, mit nur leicht zitternder Stimme. »Ich mische mein Blut mit Wasser, und in der Neumondnacht …« Sie hielt abrupt inne, als ihr mit einem Mal klarwurde, was der Titel ›Göttin des Schwarzen Mondes‹ zu bedeuten hatte. »In der Neumondnacht nähre ich die Rosen mit meinem Blut.«
»Und deine Rosen erblühen immer«, beendete die Göttin ihre Erklärung.
»Ja, immer«, hauchte Mikki.
»Das ist die eine deiner Gaben. Die andere ist auch etwas, das die Frauen deiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben haben«, erklärte Hekate.
Nachdenklich runzelte Mikki die Stirn. Im nächsten Moment wurden ihre Augen groß. »Mein Nachname! Alle Frauen in meiner Familie hießen Empousai! Wir ändern ihn nie, unter keinen Umständen. Das ist eine Tradition, eine ungeschriebene Regel, der wir seit Generationen folgen. Selbst als es noch völlig unüblich war, dass Frauen ihren eigenen Namen behielten, statt den ihres Mannes anzunehmen, haben die Empousai-Frauen an ihrer Tradition festgehalten. Meine Mutter hat mir Geschichten von Empousai-Bräuten erzählt, die ihre Männer am Altar haben stehenlassen, weil diese sich weigerten, der Tradition zu folgen.« Mikki verstummte, als ihr bewusst wurde, dass sie wie ein Wasserfall plapperte.
Doch Hekate senkte anerkennend den Kopf. »Das kommt daher, dass in den Adern der Frauen deiner Familie das Blut der Empousas fließt – das Blut meiner treuesten Priesterinnen. Ich musste lang warten, aber es erfreut mein Herz, dass du endlich die göttliche Flamme in dir entzündet, dich gesalbt, Blut und Wasser vermischt und meinen Namen angerufen hast.« Einen Augenblick lang wirkte das Gesicht der Göttin fast freundlich. »Und wie du sehen kannst, habe ich deinen Glauben belohnt. Du hast meinen Wächter erweckt und bist ins Reich der Rose zurückgekehrt.«
»Aber das war ein Unfall! Ein Versehen!« Am liebsten hätte Mikki geweint.
»Was soll das heißen? Willst du etwa sagen, die Beschwörung war unbeabsichtigt ?« Das letzte Wort spie Hekate aus, als hätte es einen widerwärtigen Geschmack.
Der Marmor des Balkongeländers an Mikkis Rücken fühlte sich durch ihr dünnes Nachthemd an wie kalter Stahl. Die riesigen Hunde zu Füßen der Göttin stellten
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