Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
errichteter Berg und erstreckte sich in beide Richtungen weiter, als sie sehen konnte. Mikki starrte es mit großen Augen an, absolut fasziniert. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie mehrere gerundete Seitenflügel erkennen, die sich noch über die Grundstruktur des Palastes erhoben. Einige der in die Fassaden eingelassenen Panoramafenster waren hell erleuchtet. Während sie den Palast betrachtete, hatte sie plötzlich das Gefühl, als drehte sich ein Schlüssel in ihrem Inneren.
»So etwas kann ich mir nicht einbilden«, sagte sie laut, so dass der Klang ihrer Stimme ihre Worte bestärkte. »Wenn ich mir ein Schloss, einen Palast oder was auch immer erträumen würde, dann würde es aussehen wie Cinderellas Märchenschloss, original wie von Disney.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Das hier habe ich mir ganz bestimmt nicht ausgemalt.« Sie hob die Hände und ließ sie sofort hilflos wieder sinken. »Ich weiß nicht, wo ich bin oder was passiert ist, aber das kann sich nicht alles in meinem Kopf abspielen.«
In diesem Moment erklang hinter ihr ein Zischen, gefolgt von einem leisen Knistern, und als Mikki sich hastig umdrehte, sah sie jenseits ihres Balkons Lichter aufflammen. Mit einem flauen Gefühl im Magen bewegte sie sich langsam darauf zu. Sie musste mehr als dreißig Schritte gehen, bis sie die elegant gemeißelte Balustrade erreicht hatte, die sich um ihren Balkon zog. Als sie sich über das hüfthohe Geländer beugte und auf den Boden weit unter ihr hinabsah, stockte ihr der Atem.
»Rosen!«, rief sie begeistert. Der Palast war von einem kreisförmig angelegten Labyrinth aus unzähligen Rosenbeeten umgeben, in das sich hier und da Bäume und Hecken, Springbrunnen und Statuen mischten. Im Herzen der Gärten meinte sie, den dunklen Umriss eines anderen Gebäudes erkennen zu können, aber im schwindenden Licht der Abenddämmerung ließ sich das nicht sicher sagen, auch wenn die Gärten zusätzlich von zuckenden Flammen beleuchtet wurden, die aus zahlreichen Fackeln im Boden und in den Baumästen aufstiegen. Das gedämpfte Zischen erklang erneut, und Mikki sah zu, wie die nebelhafte Silhouette eines in Seide gehüllten Mädchens eine der Fackeln entzündete. Bald darauf bemerkte sie mehrere andere junge Frauen, die sich lautlos durch die Gärten bewegten und wie winzige Kometen einen flackernden Feuerschweif hinter sich herzogen. Plötzlich wurde es Mikki übel.
»Na siehst du!« Sie machte frustriert eine Handbewegung und kämpfte die aufkommende Übelkeit zurück. »Da ist noch etwas, was ich mir wohl kaum ausdenken würde – kleine nymphenartige Dienerinnen, die Petroleumfackeln anzünden.«
»Du hast keine Halluzinationen, und du wirst auch nicht verrückt, Mikado Empousai.«
Mikki zuckte heftig zusammen, als hinter ihr plötzlich eine kräftige, heisere Frauenstimme erklang, und der Schreck verjagte das seltsame Schwindelgefühl, das sie gepackt hatte. Schnell drehte sie sich zu der Frau um, die anscheinend aus dem Nichts aufgetaucht war und eine ungeheure Macht ausstrahlte. Ihr Anblick war so überwältigend, dass Mikki sie nur sprachlos anstarren konnte wie ein ehrfürchtiges Kind.
Die Frau war groß, hatte breite Schultern, einen ebenmäßigen, reizvollen Körper und ein scharfkantiges, intelligentes Gesicht. Ihre Lippen waren voll und karmesinrot, und ihre großen, wachsamen Augen strahlten in einem stechenden Grau. Sie trug ein Gewand aus tiefschwarzer Seide, das ihren schlanken Körper perfekt betonte, und um ihre schmale Taille wand sich eine Kette aus silbernen Rosen, die mit Stängeln aus Rubinen verbunden waren. Durch einen Schlitz in der glitzernden Robe konnte Mikki ihre langen, schlanken Beine erahnen – so perfekt, als wären sie aus lebendigem Marmor gemeißelt. An den Füßen trug sie goldene Sandalen, und neben ihr auf dem Boden saßen zwei der größten Hunde, die Mikki je gesehen hatte. Die schwarzen Kreaturen begegneten ihrem Blick mit unnatürlich rot glühenden Augen, und Mikki sah rasch weg, erst zu der flammenden Fackel, die die Frau in der Hand hielt, und dann zu ihrem glänzenden Kopfschmuck. Durch ihre dunklen, kunstvoll geflochtenen Haare zog sich ein Wasserfall winziger Lichtpunkte, die wie Sterne funkelten.
Dann sprach die Frau erneut, und die Macht in ihrer Stimme jagte Mikki einen angstvollen Schauer über den Rücken.
»Ich bin die Göttin Hekate, und ich heiße dich im Reich der Rose willkommen.«
9
»Hekate?« Mikki konnte kaum sprechen – diese Frau war
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