Mythor - 054 - Vina, die Hexe
Gondelkante festhaltend und mit den verhältnismäßig kurzen Drachenbeinen vor seiner Herrin pendelnd. Sie umschlang seinen Körper mit dem freien Arm.
»Laß los!« rief sie.
Er spürte ihren Griff und gehorchte. Augenblicklich wurde er in ihrem Arm überschwer, aber sie warf sich mit ihm nach innen zurück. Gerrek selbst hatte seinem Körper dabei noch etwas Schwung gegeben und kugelte förmlich über die Hexe hinweg ins Innere der Gondel.
»Tür zu!« keuchte er. »Es zieht!«
»Sorgen hast du«, murrte Vina erleichtert und begann sich aufzurichten. Sie streckte eine Hand aus, und einer der Ringe mit den roten Steinen schien für wenige Herzschläge schwach in der Dämmerung der Gondel zu glühen. Dann schloß sich die Tür.
Gerrek setzte sich mitten in der Kabine auf, schlug die Beine untereinander und sagte: »Wein! Ich brauche Wein, sofort. Ich bin vollkommen ausgekühlt. Wie konntest du mich nur dort oben hinaufschicken, in diese eisige Kälte? Ich werde sterben!«
»Das ist wieder eine deiner leeren Versprechungen«, stellte sie nüchtern fest und reckte ihren schlanken Körper auf. »Was ist mit der Meduse?«
»Ich habe ihr Feuer unter dem Hintern gemacht«, erklärte Gerrek. »Mehr weiß ich auch nicht. He, sieh mal!«
Seine knorrige Hand deutete zum Fenster.
Ein großes, qualliges Gebilde mit heftig wedelnden Fangarmen trudelte an dem Zugvogel vorbei in die Tiefe.
*
Vina fuhr herum. »Erzähle!« verlangte sie, während sie der Meduse nachsah. »Wie hast du das geschafft?«
Gerrek sprang auf und eilte ebenfalls zum Fenster. »Gute Landung«, wünschte er. »Ich brauche trotz allem jetzt heißen Wein. Ich bin vollkommen durchgefroren.« Er schüttelte sich heftig.
»Heißen Wein?« echote die Hexe. »Wo soll hier heißer Wein herkommen? Im übrigen darfst du dich ruhig selbst bedienen. In der Zwischenzeit kannst du von deiner Heldentat berichten.«
»Es war wirklich eine Heldentat«, behauptete der Beuteldrache und verfiel sofort wieder ins Nörgeln. »Alles muß man selber machen in diesem Wrack von einem Luftschiff. Immer auf die Kleinen…« Dabei stieß er mit dem Kopf gegen ein Hochregal. »Ach, das ist ja der Krug.« Er griff mit beiden Händen nach dem Weinkrug und hob ihn an seinen zwei Henkeln von dem Regal herunter. Es war ein Wunder, daß er bei den heftigen Schaukelbewegungen nicht von selbst heruntergepurzelt war.
Gerrek erzählte mit ausschweifender Langatmigkeit von den Gefahren seines Aufstiegs und dem Kampf mit der Meduse. »Schließlich«, beendete er seinen Bericht, »verbrannte ich dem Luftgeist seinen wichtigsten Körperteil. Das gefiel ihm wohl nicht, denn er ließ mich einfach fallen. Mich, den einzigen Beuteldrachen der Welt, wie ein Stück Abfall! Dieses unwissende Ungeheuer! Dumm wie Stroh, aber was will man machen? Ich konnte mich gerade noch an der Gondel abfangen, sonst wäre ich in die Tiefe gestürzt. Siehst du nun, in welche entsetzliche Gefahr du mich gebracht hast!« Er griff nach einer tönernen Tasse und füllte sie mit Wein.
Vina sah zu, wie der Drache mit seinem Hals eigenartige Verrenkungen machte. »Leidest du unter einer bestimmten Krankheit?« fragte sie.
»Ach, bah!« schrie der Mandaler. »Ich versuche, Feuer zu erzeugen, um diesen verdammten Wein anzuheizen! Aber, bei allen Zaubermüttern, es geht nicht!«
»Du Ärmster«, bedauerte Vina. »Nun wirst du den Wein kalt trinken müssen, bis du dich von deinen Feuerkünsten wieder erholt hast. Aber vielleicht wird dir auch so wieder warm.«
Gerrek nickte, fest entschlossen, mindestens den halben Krug zu leeren, um die Kälte wenigstens ebenfalls zur Hälfte zu vergessen, die sich in seiner Lederhaut festgebissen hatte.
Während er trank, machte Vina die nächste bestürzende Entdeckung.
Der Zugvogel, verlor bestürzend rasch an Höhe.
Aber es gab doch jetzt keine Meduse mehr, die dem Luftschiff zusetzen konnte!
Vina schluckte.
Auch Gerrek bemerkte etwas. Der Druck in den Ohren, stetes Zeichen für raschen Höhenunterschied, machte sich störend bemerkbar.
»Ich habe es geahnt«, jammerte er. »Wir stürzen ab!«
Sie stürzten tatsächlich ab. Zwar nicht zu schnell, aber doch mit stetiger Geschwindigkeit.
»Wir werden sterben«, behauptete der Beuteldrache. »Warum nur mußtest du mich an Bord des Luftschiffs schleppen? Du wußtest von Anfang an, daß ich Angst vorm Fliegen habe. Nur um mich zu quälen, hast du mich mitgenommen. Und nun wird der Flug für mich den Tod bedeuten.
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