Mythor - 054 - Vina, die Hexe
Cherzoon, und dieser Vorstoß hatte ihn alles gekostet. Seine Ausrüstung, die er sich in mühevollen Prüfungen erworben hatte, seine Freunde, von denen er nicht wußte, was mit ihnen geschehen war… nur Alton, das Gläserne Schwert, war ihm geblieben.
Und die Ungewißheit. Wo befand er sich?
Jäh fuhr er herum, fixierte die Feuergöttin. »Fronja«, stieß er hervor. »Hast du diesen Namen je gehört? Fronja!«
Sie schüttelte überrascht den Kopf. »Nein. Wer ist das?«
Mythor antwortete nicht. Es hatte keinen Sinn. Fronja, deren Bildnis er vermißte wie nichts anderes auf der Welt. Nur die Erinnerung an ihr liebliches Antlitz, das ihm immer wieder Kraft gegeben hatte, war geblieben.
Aber so wenig gab es, an das er sich erinnern konnte! Seine Vergangenheit lag immer noch zum größten Teil im Dunkel, und jetzt diese eigenartige Umgebung… befand er sich wirklich in der legendären Welt südlich der Schattenzone? Gab es sie?
Oder war alles nur eine Täuschung?
»Ich weiß es nicht«, keuchte er.
Ramoa verstand seine Bemerkung falsch. »Wenn du es nicht weißt, wie kannst du dann den Namen nennen? Fronja… das klingt so seltsam, so träumerisch. Ein schöner Name. Eine Frau, Honga?« Und lautlos hatte sie sich erhoben, war zu ihm getreten und berührte seine Schulter mit der Hand. Sie fühlte, daß er anders war als die anderen Männer der Inselwelt. Er war es nicht gewohnt, sich unterzuordnen. War er wirklich der, für den er sich ausgab? Es konnte nicht sein. Auch ein Held verhielt sich anders. War nicht so selbständig wie dieser… Honga.
Er zuckte mit den Schultern und schüttelte ihre Hand dabei ab. Eine Geste, die kein anderer Mann gewagt hätte. Ihr Blick glitt zu dem verletzten Oniak. Er hätte sich anders verhalten. Oniak und Honga waren verschieden wie Tag und Nacht, wie Vanga und Gorgan…
»Du sagst, die Regenbogen-Brücke sei das einzige Bauwerk des Walls gegen die Finsternis, das noch vollständig erhalten ist?«
»Ja.«
»Dann muß ich dorthin«, sagte er. »Vielleicht gibt es dort Hinweise…«
»Worauf, Honga?«
Aber er antwortete nicht. Sie fühlte nur die Unrast, die ihn plötzlich erfüllte. Ein Ziel war vor ihm aufgetaucht. Ein Ziel, das er erreichen wollte - um jeden Preis!
*
Ein gefährlich klingendes Knurren ertönte, dann kam Bewegung in die riesige Ballonhülle. Ein nicht minder gefährlich wirkendes Drachenmaul schob sich dicht hinter dem Boden hervor, versehen mit langen Eckzähnen rechts und links und leicht gekräuselten Barthaaren an den Seiten. Dann folgte ein paar großer Augen und zwei zerknüllt wirkende Ohren.
Mit einem Wort: Gerrek kroch unter dem Ballon hervor ins Freie.
»Tatsächlich«, stellte er fest, während er die Hülle etwas anhob, um auch Vina den Weg ins Freie zu ermöglichen, »die Sonne scheint. Ich hätte es kaum für möglich gehalten.«
Was der Beuteldrache als scheinende Sonne bezeichnete, war am nebelverhangenen Himmel eine weißgelbe Scheibe hinter den wehenden Schleiern. Ringsumher war alles grau in grau.
Sie waren die Nacht über in der Gondel des abgestürzten Zugvogels geblieben. Damit hatten sie recht getan, wie sich erwies, denn Vina erspähte wuchernde Pflanzen, die sich bereits über die Hülle herzumachen versucht hatten, aber durch das harte Leder nicht eindringen konnten.
»Ich nehme an, daß es Hongas Flugdrachen war, den wir gesehen haben«, vermutete sie. »Also ist er auch nicht viel weiter gekommen als wir. Er muß sich ebenfalls auf den Blutigen Zähnen befinden. Nur ein wenig mehr im Westen als wir.«
»Den du gesehen hast«, verbessere Gerrek. »Ich habe ihn nicht gesehen. Ich hatte genug damit zu tun, mir die Augen zuzuhalten. Es ist ein Wunder, daß wir den Absturz überlebt haben. Ich glaubte erst, ich sei tot, als ich die Augen wieder öffnete.«
Vina winkte ab und sah sich um. »Wir müssen zusehen, daß wir das Pflanzenzeug vom Ballon herunterbekommen. Wir müssen die Löcher flicken, so schnell es geht. Und dann suchen wir Honga. Fürwahr, er hätte sich für seinen Absturz keinen ungemütlicheren Flecken aussuchen können. Hoffentlich überlebt er es.«
»Wieso?« fragte Gerrek mürrisch. »Ich finde es hier sehr idyllisch. Ringsum Blumen, eine friedliche Welt und… he, wer kitzelt mich da?«
Es war die idyllische, friedliche Welt, die sich seiner bemächtigte, und das auf sehr nachdrückliche Weise. Etwas ringelte sich um seinen Fuß, riß ihn zu Boden und zerrte ihn mit hoher
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