Mythor - 054 - Vina, die Hexe

Der Mensch ist nun einmal nicht fürs Fliegen geeignet, sonst wäre er mit Flügeln erschaffen worden! Tu etwas! Ich will nicht abstürzen!«
    »Ich glaube«, sagte Vina bedächtig, »daß es keine Rolle spielt, was du willst oder nicht willst. Die Meduse muß den Ballon durchlöchert haben. Wir verlieren Gas, deshalb stürzen wir ab. Und wir können auch keinen weiteren Ballast mehr abwerfen, weil wir keinen mehr haben. Selbst wenn ich dich hinauswürfe, käme der Zugvogel nicht viel weiter.«
    »Mich hinauswerfen? » kreischte der Beuteldrache entsetzt. »Bist du von Sinnen?«
    Vina lachte leise. »Du solltest mich inzwischen gut genug kennen, daß ich das niemals tun würde«, sagte sie leise. »Wir können nur versuchen, irgendeine Insel zu erreichen. Zu dumm, daß es gerade jetzt dunkel wird.«
    »Es gibt Inseln genug«, behauptete Gerrek. »Laß uns landen und unsere Reise zu Fuß fortsetzen.«
    Vina schwieg. Sie sah durch die Dämmerung in Flugrichtung. Das Luftschiff kam immer tiefer. Mit ein wenig Glück konnten sie es schaffen, auf einer kleinen Inselgruppe zu landen, die sich vor ihnen aus dem Wasser erhob.
    Auch Gerrek sah diese Inseln im Licht der sinkenden Sonne auftauchen. Der Wind peitschte den Zugvogel darauf zu. Vina brauchte die Flügel nicht einmal als Lenkhilfe einzusetzen.
    »Das sieht ja schaurig aus«, bemerkte Gerrek.
    In der Tat bot die Inselgruppe keinen einladenden Anblick. Sie sah von oben aus wie der Rückenkamm eines Drachen. Vina kannte dieses Gebilde.
    »Die Blutigen Zähne « , sagte sie leise.
     
     
    *
     
    Gerrek schüttelte sich. Er starrte aus seinen Glubschaugen in die Tiefe, die immer schneller zu ihnen heraufflog - so schien es ihm. In der Tat sah die Inselgruppe mit ihren scharfen Felszacken, die hart und spitz emporragten, in ihrer Formierung aus wie der Kiefer eines gewaltigen Ungeheuers mit spitzen Zähnen.
    »Brrrr«, machte der Mandaler. Nur ein Teil der Felsen war zu sehen, aber der Anblick allein reichte dem Beuteldrachen, um sich äußerst unwohl zu fühlen. Hinzu kam der unaufhaltsame Absturz des Zugvogels, der ihm zu schaffen machte.
    »Der Name klingt so scheußlich, wie die Inseln aussehen«, sagte er. »Können wir nicht ein wenig weiter nach rechts oder links treiben?«
    »Die anderen Inseln sind zu weit. Wir würden ins Wasser stürzen. Sag an: wie gut kannst du schwimmen?«
    »Ich mag kein Wasser«, protestierte der Beuteldrache.
    »Ganz so schlimm sind die Inseln auch nicht, wenn man von den fleischfressenden Pflanzen und den Fischköpfen absieht«, versuchte Vina ihn zu beruhigen. »Wenn man sich ein wenig vor ihnen in acht nimmt, kommt man ganz gut für ein paar Tage zurecht.«
    »Fleischfressende Pflanzen?« schrie Gerrek schrill. »Fressen die etwa auch Beuteldrachenfleisch?«
    »Es wäre eine Gelegenheit, das erstmals festzustellen«, murmelte die Hexe. »Halte jetzt den Mund, damit ich versuchen kann, den Zugvogel halbwegs heil zu landen.«
    Es wurde rasch dunkler. Das Luftschiff sank mit nicht geringer Geschwindigkeit. Der Wind war stärker geworden, eine Sache, die Vina gar nicht gefiel. Jetzt mußte sie doch mit den Flügeln lenken, um die Absturzgeschwindigkeit ein wenig zu vermindern. Sie begann, den dünner und damit weniger tragfähig werdenden Ballon in eine weite Schleife zu lenken, die den Zugvogel wieder auf das Meer hinauskreisen ließ.
    »Was machst du da?« protestierte Gerrek. »Sollen wir ins Meer stürzen?«
    Vina ging nicht darauf ein. Sie konzentrierte sich auf das Gestänge, mit dem sie über starke Zugseile die Flügelstellung verändern konnte. Allmählich schwenkte der Zugvogel wieder zu den schroffen Felszacken der Inselkette zurück.
    Gerrek murmelte irgend etwas Unverständliches. Seine Knitterohren sanken traurig herab. Vina achtete nicht darauf. Sie hatte genug damit zu tun, in der Fast-Dunkelheit eine einigermaßen ebene Landefläche zu entdecken, und nach Möglichkeit mußten auch Erdspalten in der Nähe sein, aus denen man später den Ballon wieder mit Gas füllen konnte.
    Lange konnte sich der Ballon nicht mehr halten. Das meiste Gas war bereits entwichen, und das Gewicht der Gondel zog schwer nach unten.
    Einmal zuckte Vina kurz zusammen, weil sie unter sich die Reste eines Flugdrachens zu sehen glaubte, der beim Aufschlag zertrümmert worden war.
    Honga?
    Da war der Zugvogel auch schon über die Stelle hinweggehuscht, glitt weiter nach Osten. Steil ragten Felskronen empor.
    Vinas Gesicht war von der Anstrengung