Mythor - 054 - Vina, die Hexe
ruhig. »Du hast dein Schwert, deine Krallen, und durch deine Lederhaut kommt so rasch auch nichts durch. Also wirst du gehen.«
»Und was ist, wenn mir Schwert und Krallen nichts nützen? Du hast eine erschreckende Art, mich immer wieder in Todesgefahr zu schicken.«
»Das hast du auch gesagt, als ich dich hinausklettern ließ, um die Meduse fortzuscheuchen. Du hast es überlebt, wie man sieht. Für den Notfall kannst du ja immer noch Feuer spucken.«
»Immer ich!« meckerte Gerrek. »Ich will aber nicht.«
»Ich befehle es dir«, sagte Vina immer noch ruhig. »Reicht dir das nicht?«
Unwillig erhob sich Gerrek. »Ich hoffe, daß du wenigstens ein paar Tränen vergießt, wenn du meine sterblichen Überreste aus der Luft entdeckst«, sagte er.
Sie winkte ab.
»Hexen weinen nicht, Gerrek!«
Mürrisch schlurfte der Drache auf seinen Krallenfüßen davon. Vorsichtshalber zog er schon vor Verlassen der gerodeten Zone sein Schwert.
Vina sah ihm eine Weile nach. Schließlich verschwand der Beuteldrache zwischen den Büschen und Sträuchern. Schulterzuckend machte sich die Hexe wieder an die mühselige Arbeit, die Löcher in der Ballonhülle zu schließen. Sie ahnte, daß sie an diesem Tag nicht mehr mit der Arbeit fertig werden würde - mit oder ohne Gerrek.
Er würde sich schon durchschlagen. Gerrek war ein zäher, kräftiger Bursche und wußte sich seiner Haut zu wehren. Und wenn sich Honga ebenfalls allein durch die feindliche Pflanzenwelt der Blutigen Zähne schlagen mußte, so konnte er Hilfe durchaus gebrauchen.
Vorausgesetzt, Gerrek fand ihn, ehe die Pflanzen ihm den Garaus machten. Denn auch Helden sind nicht unsterblich.
*
Gerrek kam trotz seiner kurzen Beine rasch voran. Es war, als habe es sich unter den Pflanzen herumgesprochen, daß da ein griesgrämiger Gesell einhermarschierte, der erstens sehr unverdaulich und zweitens äußerst wehrhaft war. Bis auf wenige Ausnahmen wurde der Beuteldrache nicht von den Pflanzen angegriffen, und einmal war er selbst daran schuld, weil er versäumt hatte, auf Stacheln zu achten, ehe er eine Frucht pflückte. Befremdlicherweise gab es diese Stacheln nicht an Ästen und Zweigen des Strauches, sondern an den Kriechwurzeln, über die Gerrek prompt stolperte. Und als er die ersten drei Stacheln abgeknickt hatte, wurde der Strauch darauf aufmerksam und ging zum Gegenangriff über. Immerhin gelang es dem Mandaler, die Frucht zu erbeuten, die eine giftgrüne, harte Schale besaß und im Innern über saftiges Fruchtfleisch verfügte. Es sättigte nicht nur seinen Hunger, sondern löschte auch den Durst, wenngleich der Fruchtsaft bei weitem nicht so schmackhaft war wie Wein. Die große Frucht, mehr als eine Elle durchmessend, reichte für die Abendmahlzeit.
Gerrek marschierte noch ein wenig weiter, bis er an ein kleines Hochplateau gelangte. Es war schwer, hinaufzuklettern, besaß aber den Vorteil, daß der Fels vollkommen kahl war und keiner Pflanze einen Ansatzpunkt bot, hinaufzukommen. Beruhigt legte sich der Beuteldrache nieder, verwünschte sein Schicksal, das ihm keine weichen Felle als Bett beschieden hatte, sondern nur harten Fels, und schlummerte sanft ein.
Am nächsten Morgen erwachte er und starrte direkt in zwei riesige Augen.
*
Mythor und seine beiden Begleiter waren an diesem Tag nicht mehr so weit gekommen wie zuvor. Sie hatten langsamer gehen müssen. Oniak kam nicht so rasch voran, wie er selbst wollte. Die Wunde schien sich nicht mehr schließen zu wollen. Am Abend trat das ein, was Mythor befürchtet hatte. Oniak begann zu fiebern. Er fand keinen Schlaf mehr, sondern warf sich unruhig hin und her.
»Wenn es hier die richtigen Heilpflanzen gäbe, könnte ich ihm helfen«, flüsterte Ramoa. »Aber alles, was hier wächst, sticht, kratzt und speit Gift. Damit würde ich ihn höchstens umbringen. Honga, wir müssen wenigstens einen Tag warten.«
Mythor antwortete nicht. Er wußte nicht genau, wie weit sie marschiert waren, seit sie die Absturzstelle verlassen hatten. Die ständig wechselnde Landschaft und die ständig neu auftauchenden Gefahren täuschten über alles hinweg. Ihr Ziel, die Verbindungsstelle zwischen den Inseln, hatten sie nicht erreicht.
Oniak murmelte im Halbschlaf. Seine olivgrüne Haut hatte sich verfärbt und war bräunlich-grau geworden Mythor beobachtete ihn besorgt. Es stand gar nicht gut um den kleiner Mann.
Doch gegen Morgen schien wieder alles besser zu werden. Oniak fieberte nicht mehr und wirkte
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