Mythor - 054 - Vina, die Hexe
vorwärts.«
Mythor sah zum Himmel empor. Das ihm bekannte Farbenspiel der Schattenzone war zu sehen, die hellen Lichterscheinungen und düsteren Farbstreifen. In der Zone, in der sie sich befanden, waren Sonnenaufgang und -Untergang immer ein besonderes Schauspiel. Die Sonne tauchte am Horizont auf, stieg höher und verschwand hinter der Finsternis der Schattenzone, um später darüber wieder aufzutauchen und ihre Bahn zu ziehen. Abends verlief diese Erscheinung umgekehrt. Mythor schloß daraus, daß sie sich in der Dämmerzone befanden - aber mehr wußte er nicht.
Mehr ließ sich auch nicht sagen. War dies das Ende der Welt, hörte ein oder zwei Tagesreisen weiter endgültig alles auf? Oder war hier der Beginn der legendären Südwelt?
Ramoa hatte ihm darüber keine Auskunft geben können. Und Oniak war kaum ansprechbar. Der schmächtige Mann war froh, wenn niemand ihn mit Fragen belästigte, und jetzt schlief er wieder. Auch jetzt war sein Schlaf unruhig. Mythor befürchtete, daß Oniak zu fiebern beginnen mochte. Das würde sein Ende besiegeln.
»Warum heißt das Bauwerk ausgerechnet Regenbogen-Brücke?« fragte Mythor. »Hat es eine bestimmte Bewandtnis mit seinem Aussehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ramoa. »Ich habe nur davon gehört. Wir müssen uns überraschen lassen.«
Mythor nickte. »Gut, warten wir es also ab.« Er betrachtete seine verschnürten Fellschuhe. Der Boden war scharfkantig und hart, und Oniak hatte sich mehrmals fast die Sohlen aufgeschnitten. Ramoa selbst verzichtete auf Schuhwerk. Ihre Sohlen waren verhärtet, der harte Boden und scharfe Steinkanten oder schneidende Gräser machten ihnen nichts aus.
Überhaupt schien sie niemals Schmerzen zu empfinden. Die Abschürfungen, die sie sich beim Absturz des Flugdrachens zugezogen hatte, waren wieder verschwunden. Mythor selbst spürte seine leichten Verletzungen noch.
Leise knisterte das Feuer. Als Mythor wieder Ramoa ansah, erkannte er, daß sie eingeschlafen war. In sitzender Stellung kauerte sie da, die Augen geschlossen.
Mythor blieb noch einige Zeit wach und beobachtete das düsterne Farbenspiel der Schattenzone in der Nacht. Seine Augen glommen hell, fast gelblich wie die eines Raubtiers.
*
»Ich werde verrückt«, knurrte Gerrek. »Nun siehe sich das einer an.«
Er hatte die Tür der Gondel geöffnet, in der sie übernachtet hatten, und sah hinaus. Die mit Feuer gerodete Fläche war kaum noch als solche zu erkennen. Aus der Asche hatten sich wieder Gräser mit scharfen Kanten geschoben, in die der Mandaler fast getreten wäre. Dazwischen blühten andere Pflänzchen in gefährlicher Schönheit, und ein paar Schlingpflanzen ringelten sich langsam, aber unaufhaltsam auf den Zugvogel zu.
»Hast du etwas anderes erwartet?« fragte Vina gelassen. »Wir werden also wieder aufräumen müssen, und das jeden Tag, bis der Zugvogel wieder fliegt.«
Gerrek schüttelte sich.
»Beides ist gleich unerfreulich«, behauptete er. »Das Aufräumen unter diesen Pflanzen und das Fliegen.«
»Ich weiß«, sagte Vina mit spöttischem Unterton. »Du hast Angst vorm Fliegen.«
Der Mandaler trat nach einer Ranke, die sich in die Gondel hineinzuwinden versuchte. »Stürzen wir uns also in die Arbeit«, seufzte er.
Irgendwann später hatten sie eine genügend große Fläche »vom Unkraut befreit«, wie der Mandaler es nannte, und konnten sich daran machen, am Ballon weiterzuarbeiten. Dabei erwies sich der Beuteldrache nicht nur als ungeschickt, sondern wurde durch die Krallen an seinen Fingern erheblich behindert.
»Ich weiß, was du statt dessen tun könntest«, sagte die Hexe schließlich, als Gerrek mehr zerstörte als flickte. »Du bist ein tapferer Held und weißt dich wohl zu wehren. Du wirst also aufbrechen und nach dem Helden Honga suchen. Ich folge mit dem Zugvogel, sobald er wieder flugfähig ist.«
Gerrek sprang auf und rollte wild mit den Augen. »Wer?« schrie er.
»Ich?«
Vina lächelte. »Genau. Vielleicht benötigt Honga Hilfe. Vielleicht kommst du gerade im richtigen Augenblick, um ihn zu retten. Hier kannst du mir doch nicht helfen, und wahrscheinlich erreichst du ihn, bevor der Zugvogel wieder in der Luft ist. Außerdem brauchst du dafür auch nicht zu fliegen.«
Der Beuteldrache sah einmal in die Runde. »Dieses Unkraut«, sagte er düster, »lauert nur darauf, mich zu verspeisen. Es wird über mich herfallen, sobald ich allein in diesen Mord-Dschungel eindringe.«
»Du kannst dich wehren«, erklärte Vina
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